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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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Trockenbrot in die Hand. »Und jetzt hau ab!«
    Der Russe verbeugte sich tief. Für einen Moment stand abgrundtiefer Hass in den Augen seiner Tochter. Dann erlosch ihr Blick wieder, und sie ließ sich willenlos von ihrem Vater auf die drei Soldaten zuschieben.
    Hans hob abwehrend die Hände. »Nix Mädchen! Keine Zeit. Weg, dawai!«
    Sie gingen rasch davon.
     
    Wie es der Mann beschrieben hatte, gabelte sich die Schlucht nach ungefähr einem Kilometer. Sie folgten der linken Balka, die aber schon nach wenigen Metern endete. Vor ihnen erhob sich ein steiler Schneewall.
    »Scheiß-Iwan!« Fritz trat wütend in den Schnee. Sein Fuß sank bis zum Knie ein, blieb hängen. Mit einem Ruck riss er ihn zurück. Der Schnee sackte zusammen und gab eine steif gefrorene Hand frei.
    Hans stocherte mit dem Gewehrlauf an einer anderen Stelle. Es gab noch mehr Leichen.
    »Russen?«, fragte Fritz.
    »Nee, Deutsche.«
    Die drei sahen sich an, dann nach oben.
    »Die haben die ganze Schlucht mit Gefallenen aufgefüllt«, sagte Hans.
    »Los, weiter, sonst geht der letzte Flieger ohne uns.« Fritz begann, über die gefrorenen Leichen nach oben zu klettern.
    »Gibt’s keinen anderen Weg?«, fragte Bubi tonlos.
    »Jetzt komm schon!«, fuhr Fritz ihn an. »Die spüren nix mehr!«
    Nach einigen Metern verringerte sich die Steigung, aber es war trotzdem ein schwerer Weg. Keuchen d kletterten sie über die unzähligen gefrorenen Leiber. Auf allen vieren erreichten sie den oberen Rand der Schlucht. Hans zog sich an einem Birkenkreuz hoch. Er dachte an Gross, der sicher Gefallen an dieser Bergbesteigung gefunden hätte. Gipfelkreuz, Totenkreuz. Ein Totengebirge.
    Ein starker Wind zersprengte die Schneeflocken zu scharfen Kristallen und trieb die drei Deserteure wie steuerlose Boote über aufragende Hände, Füße, Gesichter – eine reifbedeckte Brille knirschte unter einem Stiefel – und schließlich auf freies Feld! Bedachte man die Ausmaße der Schlucht, mussten allein hier über fünfzigtausend Tote liegen.
    Der Sturm wehte ihre Füße in einen schmalen, in den Schnee getrampelten Weg, der scharf nach l inks abzweigte. Dicht hintereinander, mit zitternden Knien, taumelten sie weiter, alte Männer auf ihrem letzten Weg.
    Immer wieder durchbrachen die Umrisse rettender Gebäude den rasenden Schneeschleier des Sturms, die sich beim Näherkommen allerdings als Spuk herausstellten, den ihnen ihr verzweiflungskrankes Hirn vorgegaukelt hatte.
    Versunken in Apathie, die gleichgültig ihre Beine weiterbewegte, stolperten sie schließlich über ein schneeverwehtes Bahngleis, dem sie folgten, bis sich vor ihnen eine schwarze Schlange aus unzähligen Waggons abzeichnete. Sie glaubten erst an ihre Existenz, als sie das kalte Metall auf ihren Lumpen fühlten. Ihre erfrorenen Münder wimmerten vor Dankbarkeit. Sie hatten Gumrak erreicht.
    Ein verlassener Waggon war ein gutes Versteck, um sich etwas auszuruhen. Vielleicht gab es sogar noch ein paar Sitze, mit denen man ein kleines Feuer machen konnte. Fritz löste den Riegel der Schiebetür mit einigen Kolbenschlägen. Die Tür sc hwang quietschend auf. Der Sturm schlug einen hart gefrorenen, blutverschmierten Verband in sein Gesicht.
    Der Waggon war bis unter die Decke mit erfrorenen, wie Brennholz übereinandergeschichteten Verwundeten gefüllt. Trotz der Kälte stank es nach Eiter und Blut.
    Fritz hörte ein leises Stöhnen, sah genauer hin und blickte in zwei aufgerissene Augen, unter denen sich unmerklich die über grauem Zahnfleisch zurückgezogenen Lippen bewegten. Gemeinsam versuchten sie den Schwerverletzten, von dem zunächst nur der wachsgelbe Kopf zu sehen war, zwischen den bretthart gefrorenen Toten herauszuziehen; ein aussichtsloses Unterfangen. Der Mann schrie unter ihren Bemühungen auf, und der Kot aus seinen zerfetzten Därmen stank ihm zum Mund heraus.
    Erschöpft bettete Hans den Kopf in seine Armbeuge, und Fritz zündete seinen letzten Zigarettenstummel an. Der Mann bedankte sich mit leiser, klarer Stimme, bevor er über eine Orchesterprobe delirierte, die irgendwo in der Nähe von Kassel stattfand und zu der er nicht zu spät kommen durfte. Nachdem er zweimal an der Zigarette gezogen hatte, starb er.
    Den nächsten Waggon öffneten sie mit einer Eisenstange, über die Fritz gestolpert war. Auch dort gab es keinen Platz für sie. Nach dem fünften Waggon gaben sie auf. Bis zum Anfang des Zuges, den eine geborstene, aus den Gleisen gekippte Lokomotive bildete, zählte Hans über

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