Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
dreißig Waggons. Auch auf den Nebengleisen standen Verwundetentransporte, die sich längst in Leichenzüge verwandelt hatten. Hans glaubte, den grausigen Chor der letzten verzweifelten Schreie und Flüche zu hören, aber es war nur ein Schwarm Krähen, der schwer und fett von einem offenen Waggon aufstieg, als Fritz mit der Eisenstange dagegen schlug.
Hinter einer Lokomotive tauchte eine Gestalt auf, die mit ihren flatternden Verbänden wie eine wandelnde Mumie aussah. Mit schleppenden Schritten kam sie direkt auf sie zu, ging mit stierem Blick, der weder sie noch ihre drohend erhobenen Waffen wahrnahm, an ihnen vorbei. Der Mann schien nicht verletzt zu sein, sondern die Verbände aus Irrsinn oder wegen der Kälte angelegt zu haben. Mit einer kurzen Stange begann er in regelmäßigen Abständen gegen die Waggonkupplungen zu schlagen, bis er in der Dunkelheit verschwand.
Auf ihrem Weg, der sie auf die fi nsteren Stationsgebäude zuführte, entdeckten sie noch mehr solcher Gestalten, die mit kleinen Schritten hilf- und ziellos durch die Nacht wankten, hohlwangig, stumpfäugig, jedes Willens und jeder Würde beraubt, menschliches Exkrement, für das in der überquellenden Hölle kein Platz mehr war. Die meisten waren stumm. Ein junger Mensch mit einem Gesicht wie ein Steinbruch verrichtete im Gehen, ohne es zu bemerken, seine Notdurft; sie tropfte durch seine verschmierte Hose in den Schnee. Das Schlimmste war das kurze, schrille Lachen, mit dem der Wahnsinn gelegentlich aus ihren stumpfen Gesichtern brach, gefolgt von einer letzten Kraftanstrengung, einer letzten Geste der Selbstzerstörung, mit der sie sich ihre schmutzunterlaufenen Nägel ins Gesicht krallten, voll hilfloser Verzweiflung darüber, dass sowohl der Tod als auch das Leben sie verschmähten.
Plötzlich bellten Schüsse aus der Station. Eine graue Gestalt stürzte mit einem ausgemergelten Huhn ins Freie und fiel kopfüber in den Schnee. Ein großer Kerl mit den Abzeichen eines Intendanturrats erschien in Mantel und Nachthemd mit einer MPi im Eingang, zwei kreischende Russinnen wurden mit barschen Stimmen zum Schweigen gebracht. Dann sandten zwei unsichtbare Schützen einen Kugelhagel in die Nacht, und der Intendanturrat lief unter dem Feuerschutz zu dem niedergestreckten Dieb und versuchte verzweifelt, seinen starren Fingern die Beute zu entreißen. Als ihm das nicht gelang, hackte er voller Panik mit dem Seitengewehr auf den Hals des wild flatternden Huhns ein. Eine große Anzahl auf ihn zuwankender Gestalten, die der Kugelhagel aus dem Gebäude nicht sonderlich zu schrecken schien, machten seine Eile verständlich. Mit einem letzten Hieb trennte er den Hals unterhalb der Faust des Toten durch, dann stolperte er in wilder Flucht mit dem kopflosen Huhn in die Station zurück. Das Menschengestrüpp, eben erst aus der Finsternis hervorgewachsen, zerstreute sich wieder, nachdem eine knochige Gestalt mit einem Beil die Faust des Toten und den Hühnerkopf in ihren Besitz gebracht hatte.
Hans und seine Begleiter schlugen einen Bogen um die Station und folgten der von ausgebrannten Fahrzeugen gesäumten Straße Richtung Goncara. Stunden monotonen Marschierens folgten. Der Hunger erzeugte ein Gefühl der Leichtigk eit, das zuweilen die Illusion des Fliegens hervorrief und immer öfter in einen heftigen Schwindel mündete, der sie manchmal zu Boden zwang.
Es tagte bereits, als sie die ersten in eine Schlucht gehauenen Bunker erreichten. Einige schwere Fliegerbomben h atten sie erheblich zerstört. Es war unwahrscheinlich, hier auf intakte Einheiten zu stoßen. Sie stolperten in einen Unterstand, dessen Decke schief in den Raum hing, und stiegen über zwei zerrissene Körper von Soldaten, die vergeblich versucht hatten, den Ausgang zu erreichen. Im nächsten Raum saßen zwei verbrannte Funker an ihren verschmorten Geräten, Splitter steckten in Lederstühlen, Koffern, Kissen und in einem Nachrichtenoffizier, dessen Körper noch weich war. Hans warf einen unbehaglichen Blick auf die Funkgeräte.
»Hoffentlich kommt keiner, um nachzusehen, warum keine Verbindung mehr zustande kommt.«
»Wir wollen hier ja nicht festwa chsen.« Fritz riss eine der Uniformen in Fetzen und begann den Ofen wieder anzuheizen. Er wickelte sich die Stofflumpen von den Händen und wartete darauf, dass das Gefühl in seine Finger zurückkehrte. Bubi ließ sich neben dem Ofen auf den Boden fallen. Seine Augen schlossen sich sofort. Er war zu Tode erschöpft.
»Wo mal eine Granate
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