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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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in der Hoffnung auf etwas Wärme dazu. Der kraftlose Gesang verstummte, der Pfarrer faltete die Hände. »Lasset uns beten: In deiner Hand, o Gott, liegt die Herrschaft über alle Reiche und Vö lker der Erde. Segne unser deutsches Volk in deiner Güte und senke tief in unsere Herzen die Liebe zu unserem Vaterlande. Lass uns ein heldenhaftes Geschlecht sein und uns unserer Ahnen würdig erweisen. Lass uns den Glauben unserer Väter hüten wie ein heiliges Erbe. Demütig neigen wir vor dir unsere Häupter, der du bestimmst alle Wege …«
    Die Ungeheuerlichkeit dieser Worte, gesprochen mit letzter Kraft und in bester Absicht, sickerte in Hans’ stumpfes Gehirn, bis es zitternd ›Nein‹ in ihm schrie. Er schreckte hoch und sah, dass die Soldaten selbst jetzt noch, verraten, verkauft, verloren, diese Worte inbrünstig nachbeteten. Wieder wurde diese von Menschen gemachte Apokalypse höheren Mächten in die Schuhe geschoben, wurden menschliches Versagen, menschlicher Größenwahnsinn, menschliche Dummheit zum Willen eines Gottes mystifiziert, dessen Wege man nicht hinterfragen durfte, und mit verfaulendem Gebein krochen diese Männer von ihren weltlichen Herrschern weg und ihrem göttlichen zu und begriffen nicht, dass es im Grunde ein- und dieselbe Religion war: Gehorsam im Geiste, Gehorsam im Fleische, das Individuum in der Masse zerquetscht.
    Inbrünstig beteten die Soldaten dem Pfarrer nach: »Herr, segne die Wehrmacht, die dazu berufen ist, den Frieden zu wahren und den heimischen Herd zu schützen, und gib ihren Angehörigen die Kraft zum höchsten Opfer für Führer, Volk und Vaterland. Segne insbesondere unseren Führer und obersten Feldherrn. Lass uns alle in unserer Hingabe an Volk und Vaterland eine heilige Aufgabe sehen, damit wir durch Glauben, Gehorsam und Treue die ewige Heimat erlangen im Reiche deines Lichts und deines Friedens. Amen.«
    Der Wunsch geht sicher bald in Erfüllung, dachte Hans. Vor seinen Augen tanzten goldene und rote Flecken. Er wollte nach draußen.
    Der Pfarrer wies auf die Drehbank, die er als Kanzel benutzte. »Soldaten. Deutsche Wertarbeit wird auf der ganzen Welt geschätzt, selbst im finsteren Reich des Bolschewismus, und so ist es jedem von euch heute vergönnt, ein Stück Heimat zu berühren. Ich segne dieses Stück Deutschland, damit es jedem, der es anfasst,
    Glück bringen möge.«
    Er segnete die Werkbank, und die Soldaten traten ehrfürchtig vor und berührten die Bank, als könnten sie durch das Metall eine direkte Verbindung zu allem, was sie längst und unwiderruflich verloren hatten, wiederherstellen.
    »Reutlingen«, flüsterte Fritz un d streichelte andächtig die Plakette. »Reutlingen auf der Alb …«
    Wie oft war er da durchgefahren! Er erinnerte sich an den Kirchturm, an die Fachwerkhäuser, den Kartoffelsalat und das Bier in der Dorfwirtschaft während den eigenmächtig verlängerten Mittagspausen. Als er bei dem hellen Lachen und den Schenkeln der Bedienung angelangt war, denen er immer nur hoffnungslos hinterhergeschielt hatte, wurde er von den Nachdrängenden weggestoßen.
    »Ihr wisst doch nicht mal, wo Reutlingen liegt!« Mit hängendem Kopf schlich er nach draußen, und die Erinnerung an die Heimat, so deutlich wie seit langem nicht mehr, würgte in seiner Kehle. Er wollte nichts mehr vom Sterben wissen, er wollte keine Lumpen mehr sehen, keinen Wahnsinn, kein Blut. Er wollte sich noch ein letztes Mal an eine grüne Wiese erinnern, einen Bach, ein Mädchen auf einem Fahrrad, das er mit seinem Lkw die Steigung der Alb hochgezogen hatte, doch stattdessen wankten sie wieder hinaus in die kalte Nacht und trieben weiter dem Tod entgegen.
    Es war kein Leben mehr möglich und noch kein Sterben. Es war nicht einmal mehr möglich, auf zwei Beinen zu gehen. Sie verfluchten den Körper, der immer noch die Kraft zur Vorwärtsbewegung erzeugte, und sie verfluchten ihn, wenn er aufgeben wollte und liegen blieb; dann klammerten sie sich eifersüchtig an ein Bein, das ein paar Zentimeter weiter gekrochen war als ihres, und Schaumflocken flogen von ihrem Mund, und sie bettelten ihrem Körper einen weiteren Meter ab, eine Bewegung, um deretwillen sie ihn gerade noch gehasst und verflucht hatten. Sie hatten nicht einmal mehr die Würde eines verwundeten Tieres, das sich in einer Ecke zum Sterben hingelegt hätte, sondern krochen blind weiter in die letzte Schwärze hinein.
    Und es wäre das Ende gewesen, wären vor ihnen nicht zwei Fahrzeuge auf der schneeglatten Fahrbahn

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