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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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stammelte Hans. Er tastete nach s einem Soldbuch, klappte die speckigen Seiten auf, wo Musk sein erstes Stalingrad-Gefecht eingetragen hatte. Dann hielt er das kleine Schwarzweißfoto mit den wellenförmigen Rändern in der Hand. Er fuhr mit der Kuppe des Zeigefingers über die Ränder, und er stellte sich vor, es wären die Locken seiner Verlobten. Es war zu dunkel, und seine Augen waren zu erschöpft, um sie genau zu sehen. Der Name, dachte er, ich muss mich wenigstens noch einmal an ihren Namen erinnern!
    Er drehte das Foto um, aber auf der Rückseite stand kein Name, und auch Fritz, den er fragte, wusste ihn nicht oder nicht mehr und riss ihm das Foto aus der Hand.
    Hans stolperte ihm nach, fiel, kroch blind vor Erschöpfung durch den Schnee, suchte nach dem Foto einer Verlobten, die er schon längst und unwiderruflich verloren hatte. Er fand die Aufnahme nicht und blieb erschöpft liegen.
    Fritz versuchte ihn aufzurichten. »Los, hilf mir!«
    Rollo, mit etwas Rinde zwischen den Zähnen, drehte sich um.
    »Soll er doch verrecken!«
    »Dann hau doch ab!«
    Auf Händen und Knien hockten sie da und starrten sich an, und ihre Worte waren keine richtigen Worte mehr, sondern die Laute von Tieren, und als Rollo ging, ging er nicht, sondern kroch auf allen vieren, und Hans stammelte, dass er nicht sterben könnte, solange er Hunger habe, weil die Todgeweihten keinen Hunger hätten, und mit flackernden Augen deutete er seine Magenkrämpfe als ein Zeichen des Lebens, bis die Schmerzen so groß wurden, dass er sich stöhnend und mit Schaumflocken vor den Lippen in Fritz’ Armen wand.
    Fritz schnitt ein Stück von seiner Koppel ab, deren Reste er als Riemen um den Leib trug, und steckte es Hans zwischen die Lippen. Dann steckte er sich ebenfalls ein Stück in den Mund. Zum Kauen war keine Kraft mehr, also lutschte er und wartete darauf, dass er das Leder schmeckte.
    Rollo, der gesehen hatte, dass die beiden sich etwas in den Mund schoben, kehrte zurück, krallte die Finger in Fritz’ Schulter. »Gib mir auch ’n Stück!«
    Ein zufriedenes Lachen ließ ihn herumfahren.
    Auch Fritz starrte die untersetzte Gestalt an, die sich hinter ihnen aufgebaut hatte, eine Flasche in der Hand schwenkte und ihnen vertrauensselig ihren Kognakatem ins Gesicht blies. »Meine Soldaten! Meine braven Männer!«
    Die Gestalt machte noch einen Schritt auf die drei zu, glitt auf dem Eis aus und fiel um.
    »Meine Soldaten …«
    Hans starrte den Mann an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Hier war er, lag direkt vor ihm im Schnee. Hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. Einer der Kommandeure des Entsetzens. General Hentz höchstpersönlich.
    Hans versuchte, ihm wieder auf die Füße zu helfen. Natürlich war der General viel zu schwer für ihn, doch schließlich gelang es mit vereinten Kräften, ihn auf die Beine zu ziehen. Er hatte das Kunststück fertiggebracht, die Flasche selbst im Fall so zu halten, dass kein Tropfen verloren ging. Stolz erklärte er seinen Trick, der angeblich psychologischer Natur war und auf völliger Teilnahmslosigkeit angesichts jeglicher Gefahr beruhte.
    Im Hintergrund war die aufgeregte Stim me seines Nachrichtenoffiziers Rettenbacher zu vernehmen. Diesem war vom I a die undankbare Aufgabe übertragen worden, dafür zu sorgen, dass der Chef nicht dauernd besoffen und ziellos durch die Gegend torkelte und die Moral der Truppe mit haltlosem Geschwätz untergrub. Da mit dem I a nicht zu spaßen war, kam der Nachrichtenoffizier seiner Aufgabe mit größtmöglichem Eifer nach. Trotzdem gelang es dem General immer wieder, ihm bei ihrem kleinen Versteckspiel ein Schnippchen zu schlagen. Das gerötete Gesicht des I c zeigte an, dass er schon seit geraumer Zeit auf der Suche war. Nach einem scheuen Blick auf die drei verwahrlosten Subjekte, versuchte er den General zum Bunker zurückzuführen. »Herr General, alle warten mit dem Abendessen auf Sie …«
    General Hentz wand sich elegant aus seinem sanften Griff und wäre beinahe wieder gefallen. »Aus!«, schrie er, um Gleichgewicht bemüht. Für einen Moment griff er in die Luft, als befinde sich dort eine Hundeleine , dann lachte er und hieb dem I c auf die verantwortungsgebeugten Schultern. »Verzeihung, ich musste gerade an meinen Hund denken. Gehorsam bis zum Ende, wie wir alle. Ruhe!« Er legte die Flasche an die gespitzten Lippen, trank, setzte wieder ab und sagte: »Ich habe von Lausitz mein Wort gegeben. Kein Defätismus vor der zweiten Flasche! Ich halte mein

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