Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
ineinander gekracht, die sie für eine Fieberhalluzination hielten, während sie, wieder auf zwei Beinen, auf sie zuwankten. Doch dann fassten ihre Hände kaltes Metall, und während die Fahrer die Fahrzeuge trennten, krochen sie auf die überfüllte Ladefläche, legten sich auf andere zu Tode erschöpfte Körper, die nicht einmal aufwachten, und fielen ebenfalls in die Bewusstlosigkeit eines neuen Erschöpfungsschlafes.
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A ls sie erwachten, war es immer noch oder bereits wieder dunkel, sie wussten es nicht. Der Laster stand friedlich am Straßenrand, in trauriger Gemeinschaft mit unzähligen anderen, denen ebenfalls der Sprit ausgegangen war. Vereinzelt, manchmal in einer dünnen Reihe, zog das Elend an ihnen vorbei, stumpf, gleichgültig, kleine Stoffschlitten mit den letzten Habseligkeiten hinterherziehend. Sie hatten keine Ahnung, wo sie sich befanden, kletterten von der Ladefläche und folgten den anderen in die Dunkelheit.
Hans stolperte und spürte das kalte Metall seiner Waffe, deren Lauf durch seine mürben Gesichtstücher stieß und seine Wange streifte. Er riss sie von der Schulter und wollte sie in den Schnee fallen lassen.
Ich brauche sie noch, zuckte es durch sein Gehirn, das die Worte hungrig in sich hineinschlang und wiederkäute, im Takt seiner schleppenden Schritte. Er stolperte erneut, und der Lauf der Waffe stieß gegen sein Kinn, als wäre sie zum Leben erwacht, wie ein feindliches Tier.
Seine Finger lagen plötzlich am Abzug. Soll ich? Soll ich nicht? Er erinnerte sich an das Abzählen v on Blütenblättern bei der Erforschung der Liebesneigung, und eine Frühlingswiese erstreckte sich in die Dunkelheit. Das kalte Metall. Wirf es weg! Wozu?, höhnte seine ausgebrannte Seele. Du kannst es sowieso nicht! Auf einen Unfall hoffen, stammelten seine zersprungenen Lippen lautlos, vielleicht den Abzug entsichern. Ein neuer unsicherer Schritt.
Die Wiese leuchtete in brennenden Farben. Das Leben kann so schön sein, flüsterten sardonische Geisterstimmen. Die Erschöpfung gaukelte ihm die lächerlichsten Fa rben und Sätze vor, und die einzige Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, wäre eine Kugel gewesen. Er konnte es nicht, und die Stimmen in ihm schienen das zu wissen und quälten ihn unbarmherzig in die tiefste Selbstverachtung hinein. Wie leicht war es doch gewesen, andere zu eliminieren. Wie herrlich weit entfernt waren sie doch im Fadenkreuz gewesen. Auch sie hatte wohl bis zuletzt die irrsinnige Hoffnung auf weiteres Leben beseelt.
Er konnte es nicht. Man gewöhnt sich leichter an die Feigheit als an die Eintönigkeit der Landschaft, dachte er.
Er stolperte, fiel, spürte eine Hand, die sich um seinen Arm schloss, ihm hoch half. Sinnlose Bewegung. Weiter. Man brauchte Ruhe für einen Selbstmord, Ruhe, die es nicht gab, solange man zwischen russischen Panzern und deutscher Feldgendarmerie zerrieben wurde. Er konnte es nicht. Und es war ihm auch nicht die Einfalt gegeben, die Angst vor dem Tod in Mut zu verwandeln. Wieder schwankte er, schwindelte, röchelte weiter …
Die Erschöpfung zwang ihn in die Knie. Undeutlich hörte er die beiden anderen brüllen, und die La ute zerrten ihn in die Wirklichkeit zurück, in die Kälte.
Fritz versuchte ihm seine Waffe abzunehmen, aber er hielt sie fest umklammert, stemmte sich hoch, wankte weiter. Seine Erniedrigung verwandelte sich in Hass, und der Hass gab ihm neue Kraft, und plötzlich fielen ihm die Worte von Gross wieder ein, und er wusste, warum er noch weiterwank te, was der Sinn seines Vegetierens war: Er musste die Führung liquidieren, irgendjemand musste für dieses Verbrechen bezahlen, wenn nicht zu Hause, dann hier, und seine erfrorenen Hände umklammerten seine eisverkrustete Waffe, als wolle er sie nie mehr loslassen.
Silhouetten tauchten vor ihnen auf, Skelette von Menschen und Häusern. Sie wankten über eine dunkle Straße. Wohin ging es überhaupt? Darauf gab es keine Antwort.
Rollo versuchte Hans festzuhalten und sagte dann zu Fritz: »Der ist ja völlig weg, und du latschst einfach hinterher!«
»Du wolltest doch immer ’ne Einheit führen«, lallte Fritz. »Bitte, wir übergeben das Kommando.«
Rollo schritt auf die Umrisse einer zerstörten Behausung zu, stolperte, fiel. Das waren doch die abgehackten Mandelbäume von Goroditsche! Sie waren wieder zu Hause.
Fritz und Hans kamen nach. »Ich hab solchen Hunger, ich kann mich nicht einmal mehr an den Namen meiner Verlobten erinnern«,
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