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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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ls in so ’nem Kellerloch zu verrecken.« Mit schiefem Gesicht wandte er sich an Haller. »Standgericht, was? Du bist doch bestimmt ’n guter Schütze, oder, Haller?«
    Haller nahm die Brille ab, putzte die Gläser sorgfältig mit einem Taschentuch, setzte sie wieder auf. »Ich geb nur die Kommandos«, sagte er und fühlte tiefe Genugtuung für die erlittene Schmach. »Abführen!«, bellte er.
    Zufrieden stellte er fest, dass unter seiner Stimme selbst einige der Schwerverwundeten zusammenzuckten.

 
     
     
     
     
     
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    H ans war unbemerkt auf einen Lastwagen geklettert, der vollgepfercht mit verwundeten Rumänen war. Niemand auf der Ladefläche sprach ein Wort, aber einige bewegten lautlos die Lippen. Finger zitterten in plötzlichen Schüben, und Augen rollten wild in den Höhlen.
    Hans wehrte sich gegen die Vorstellung, bereits verurteilt und exekutiert zu sein und sich unter Toten zu befinden. Er durfte nicht durchdrehen. Er musste ruhig und vernünftig bleiben.
    Für einen Moment spürte er Erleichterung, als er schließlich von der Ladefläche sprang.
    Im Bataillonsgefechtsstand waren nur zwei Schreiber. Hauptmann Musk befand sich bei einer Besprechung im Divisionsstab. Wo das genau war, wussten die beiden nicht. Den Kübelwagen hatte Musk mitgenommen. Der Herr Leutnant könne ja warten. Hans widerstand der Versuchung, sich in der Wärme etwas auszuruhen; Haller konnte jeden Augenblick eintreffen.
    Erschöpft und verzweifelt durc h immer wieder falsche und ungenaue Angaben, hastete er eine Straße entlang, die mit Pferdewagen und Militärfahrzeugen verstopft war. Der Schneefall war stärker geworden, ein eiskalter Wind pfiff durch seine dünne Uniformjacke.
    Flüche auf Deutsch und Rumänisch hallten durcheinander. Hans kämpfte sich durch einen Zug rumänischer Infanterie. Die Soldaten sahen ihn mit verschreckten Kinderaugen an, als fürchteten sie, für ihre Niederlage bestraft zu werden.
    Plötzlich packte ihn jemand am Arm. Es war ein deutscher Unteroffizier, dessen Uniform mit erbrochenen Speiseresten befleckt war und dessen Augen tief in den Höhlen lagen.
    »Herr Leutnant, wohin? 76. Infanteriedivision, wohin?«
    Hans versuchte sich von dem Mann zu befreien, aber der Griff des Unteroffiziers war so fest, dass seine Jacke riss. »Was weiß ich! Da vorn ist angeblich der Divisionsstab.«
    Aber das interessierte den Unteroffizier bereits nicht mehr. Langsam, als versuche er sich an die Zeilen eines Gedichts zu erinnern, sagte er: »MG-Nest, nur der Gimpf, ich hab nur noch den Gimpf.«
    »Dann gehen Sie doch mit dem Gimpf!«, schrie Hans und versuchte, die Finger von seiner Uniform zu lösen.
    »Das geht nicht. Der Gimpf geht schon mit mir.« Der Unteroffizier zog ganz ruhig einen abgetrennten Finger aus der Tasche, offensichtlich alles, was von Gimpf übrig geblieben war.
    Hans gelang es endlich, den Griff des Unteroffiziers zu lösen. Er lief weiter und entdeckte eine von mehreren Posten gesicherte Kellertreppe. Er hatte den Divisionsstab gefunden. Hans nahm seine letzte Kraft zusammen, machte bei den beiden Posten eine vorschriftsmäßige Meldung und bat, in äußerst dringender Angelegenheit sofort Hauptmann Musk sprechen zu dürfen.
    Einer der Posten verschwand im Keller. Hans wartete nervös.
    Der zweite Posten bot Hans eine Zigarette an.
    Nach dem ersten Zug wurde dem Leutnant angenehm schwindlig, und das Gedränge auf der Straße zog nur noch schemenhaft an ihm vorbei.

 
     
     
     
     
     
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    G eneral Hentz befand sich am Kartentisch, flankiert von seinen Adjutanten. Einer von ihnen, Oberleutnant von Lausitz, hager, Brille mit runden Gläsern, zurückgekämmte blonde Haare, spitzte gerade einen Bleistift. Hauptmann Musk stand gemeinsam mit einigen anderen Offizieren im Halbkreis auf der anderen Seite des Tisches. Von Lausitz überreichte den Bleistift seinem General. Der tippte damit auf einige Punkte.
    »Die Lage, meine Herren, kurz gesagt: beschissen.« Er beugte sich über die sorgfältig eingezeichneten Pfeile, die sauber und klar eine militärische Katastrophe anzeigten. Hier war die Logik, nicht vorn an der Front, wo auf breiten Abschnitten alles in Chaos und Blut versank. Nur hier, auf weißem Papier mit Nummern, Zahlen, Richtungsangaben, konnten in absoluter Abstraktion die richtigen Entscheidungen getroffen werden.
    Der spitze Bleistift stach unbarmherzig in die schlimmsten Eiter beulen der deutschen Front, die aufgeplatzt waren und die gesamte sechste Armee zu

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