Stalins Kühe
entlang ins Badezimmer. Es fiel mir schwer, mich aufrecht zu halten. Die Frau schrie im Wohnzimmer, dieses Weibsstück solle sich sofort zum Teufel scheren. Ich hörte, wie sie meine Tasche ins Treppenhaus warf, ebenso meine Schuhe. Als ich herauskam, erklärte der Mann, es sei offenbar das Beste, wenn ich jetzt ginge, und versuchte gleichzeitig die Frau zu beruhigen, das Mädchen habe hier doch nichts getan, nun fall doch nicht über sie her, überhaupt nichts. Ich ging ins Treppenhaus, wünschte lächelnd einen guten Tag und versuchte, dort meine Schuhe und die Sachen aus meiner Tasche zu finden. Mein Mantel war in der Wohnung geblieben. Ich klingelte und bat den Mann um meinen Mantel. Die Frau schrie immer noch im Wohnzimmer herum. Ich trat aus der Haustür und war irgendwo in der Stadt, aber nichts kam mir bekannt vor, und ich fand keine Wegweiser. Von irgendwo hörte ich das Knirschen von Schienen. Hier fuhr also eine Straßenbahn. Ich ging dem Geräusch nach. Fand eine Haltestelle. Blieb dort und stieg in die nächste Bahn, weil die früher oder später auf jeden Fall ins Zentrum oder sonst irgendwohin fuhr, wo ich mich auskannte oder aufgrund der Geräusche, Gerüche und Farben sagen konnte, dass ich von dort irgendwohin finden würde. Die Bahn war voller Morgenmenschen und Arbeitsmenschen und herber Morgenfrische und Geschäftigkeit und Tagesbeginn. Mir wurde schwindlig. Der Mageninhalt stieg mir in den Mund. Ich behielt ihn darin bis zur nächsten Haltestelle, stieg dort aus, spuckte den Mund leer und wartete auf die nächste Bahn.
Die jähen Bewegungen stellten die Welt auf den Kopf und wieder auf die Füße. Es war ein kalter Morgen, aber trotzdem war mir heiß. Das Schwitzen begann erst etwas später. Meta-Amphetamin. Ich begriff, dass meine Beine unter dem Rock nackt waren. Gestern hatte ich noch Strümpfe angehabt.
Warum hatte ich mit diesen One-Night-Stands angefangen, jetzt, da ich eine wichtige Beziehung zu Hukka hatte, eine ernsthafte, eine mit Zukunft? Jetzt, da ich Schinken-Käse-Brötchen gegessen hatte, ohne zu erbrechen, und sogar Frühstück?
Je länger ich mit Hukka, meinem Hukkalein, zusammen gewesen war, je näher Hukka mir gekommen war, desto mehr wollte ich es mit gleichgültigen Menschen treiben. Nur kleine Affären, nichts weiter, nichts von Bedeutung, aber ich war zufrieden, weil ich Hukka auf diese Weise nicht zu verlassen brauchte, wie ich anfangs befürchtet hatte. Hukkas Nähe war nicht gefährlich, weil ich zwischendurch so viel anderes und andere und Geheimnisse hatte. Selbst wenn es schlecht stand und Chaos herrschte, hatte ich noch genug Luft zum Atmen.
Obwohl. Wenn Hukka nicht angefangen hätte, diese Fragen zu stellen, hätte ich die Antworten darauf nicht anderswo zu suchen brauchen. Hukka fand, wir müssten gemeinsam nach Lösungen suchen, aber Hukka stand mir schon sehr nahe, zu nahe für so etwas. Ich vermochte es nicht, ich konnte, wollte, schaffte es nicht. Oder nein. Bei den anderen suchte ich ja keine Antworten. So aber hätte ich es behauptet, wenn Hukka von mir eine Erklärung verlangt hätte.
Warum hatte Hukka anfangen müssen, mir diese abscheulichen Fragen zu stellen? War das der Grund? Ich jedenfalls hatte nicht vor, zurückzubleiben! Moment mal, war ich also sicher gewesen, dass Hukka eine andere oder andere hatte, obwohl –? Und da begriff ich. Mir war niemals der Gedanke gekommen, dass Hukka manchmal fremdgehen könnte. Vielleicht noch nicht, aber bald, sehr bald, und das war ein guter Grund zu entscheiden, dass ich von uns beiden die Erste sein musste. Unbedingt die Erste. Die fremdging.
Das war der wahre Grund. Ich hatte beschlossen, nichtdie Zweite zu sein. Auf lange Sicht steht einer Frau das nicht, und ich wollte nichts, was mir nicht stand. Nichts, was meinen Lebensmittelkonsum steigern würde, um die leeren Nächte und die leeren Betten zu füllen. Den Rückzug auf die Kilos. Wie hatte Mutter es nur geschafft, das zu vermeiden? Wie war es möglich, dass Mutter noch immer mein Gewicht hatte? Obwohl Mutter und Vati ein so riesiges Bett hatten, dass man darin mit so wenigen Kilos unmöglich allein schlafen konnte, ohne zu erfrieren. Wieso war Mutter dazu imstande, und ich nicht? Das war nicht fair.
An meinen Bettgeschichten war nichts Demütigendes, weil mir keine Fragen gestellt wurden, die ich nicht beantworten konnte. Und sie hatten nichts Beängstigendes, denn es gab nichts zu verlieren. So wie Hukka.
Durch die One-Night-Stands verlor ich
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