Stalins Kühe
Hukka, meinen Schatz, aber ich durfte ihn ein wenig länger behalten, als ich es sonst gewagt hätte. Schließlich erträgt keine Nähe die wachsende Zahl von Geheimnissen.
Außerdem ist eine schnelle Nummer eine ganz erträgliche Alternative für einen Fressflash, wenn man die vermeiden will. Ebenso wie ein Alkoholrausch. Mit beidem kann man die Fressriten verhindern, wenn man nur zu einem von beiden gelangt, ehe man bereit ist, in den Supermarkt zu rennen.
Es gibt keinen Arzt, der behaupten könnte, ich hätte mich nicht bemüht, mir Ersatzhandlungen für das Bulimieren auszudenken. Ich hatte ja schon quasi von selbst mehrere probate Mittel gefunden. Leider war es aber nicht wünschenswert, dass ich mir für jeden Tag einen neuen Bettgenossen oder einen neuen Rausch verschaffte. Gut, gut, ich vermisste die Kleine Katze, aber – na und?
1949
Etwas wird geschehen. Niemand weiß genau, was oder wann, aber doch irgendetwas. Dieses Etwas schwebt in der Luft und macht, dass man vor jedem plötzlichen Geräusch, vor jeder Bewegung erschrickt. Wenn es nur nicht dasselbe ist wie das, was im Jahr 1941 geschah. Und auch nichts Schlimmeres.
Die Russen bombardieren die Schiffe, die von Virtsu und Haapsalu ablegen. Die Schiffe sind voller Esten, die aus dem Land flüchten und die, bevor sie am Hafen ankommen, ihre Pferde freilassen, sodass Interessierte sie sich frei aneignen können.
Von den Deutschen haben die Menschen gehört, dass die Russen jeden töten, der den Deutschen irgendwann geholfen hat, ganz zu schweigen von den anderen. Aus Sibirien Entflohene erzählen, wie es dort ist, niemand will das glauben, das kann nicht wahr sein. Die Agitatoren behaupten etwas ganz anderes. Den Staatsbediensteten, die Russland besucht haben, ist es streng verboten zu erzählen, was sie gesehen haben. Wer den Mund auftut, verschwindet. Selbst wenn er nur erzählt, dass es dort eine eigene Rasse von Kühen gebe, die Stalin-Kühe.
Stalins Kühe sind Ziegen.
Die estnischen Dörfer und Städte sind leer von Männern, übrig sind nur Frauen, Kinder und Greise. Bibeln und Kreuze sind in der Erde vergraben worden.
Arnolds Bruder Karla geht schon seit drei Wochen in die Gemeindeverwaltung und tut dort etwas, man weiß aber nicht, was.
Sofia fragt ihn jeden Tag, ob man etwas befürchten müsse.
Nein, es gebe nichts zu befürchten. Karla ist ruhig, und das ist ermutigend.
Karla sagt das auch an jenem Tag, am 24. 3. 1949. In der Nacht zuvor erging der Befehl, alle müssten die Verdunklungsvorhänge vor die Fenster ziehen, und Städte und Dörfer sind vollkommen dunkel. Niemand kann schlafen. Man hört nur das Geräusch großer Autos, es sind viele, sie fahren hin und her. Niemand weiß, was geschieht, worum es geht. Die Menschen befürchten Hausdurchsuchungen, sie sind es gewöhnt, sie zu fürchten, denn die finden auch sonst immer wieder statt. Aber vielleicht würden sie jetzt irgendwie schlimmer ausfallen?
Arnold ist zum Glück im Wald, ihn wird man zu Hause nicht finden, selbst wenn sie nach ihm suchen würden, und Karla hat gesagt, es gebe nichts zu befürchten, und Karla ist immerhin Arnolds Bruder. Sofias Freundin Alice hat sich ein paar Tage zuvor eingeschifft, aber ihr Mann war ja auch Polizist gewesen zu estnischer Zeit. Karla hat auch zu anderen gesagt, es gebe nichts zu befürchten, und alle versuchen sich zu erinnern, ob Karla nicht noch etwas anderes gesagt hat. Das hat er nicht. Miili Berg aus der Nachbarschaft hat Karla an mehreren Abenden betrunken gemacht, aber trotzdem hat er immer dasselbe gesagt. Und Karla ist Arnolds Bruder. Nichts zu befürchten. Nichts.
Durch einen Vorhangspalt sehen sie, wie die Rote Armee alle nennenswerten Lager ausräumt und wie sie die Lastautos mit Kriegsbeute belädt.
BEI
MEINEM
LETZTEN Besuch hat sich der Arzt gewundert, warum die Medikamente nicht wirkten, obwohl ich sie schon in rauen Mengen und wer weiß wie lange nehme. Die Dosierung kann nicht mehr erhöht werden. Nein, das geht nicht. Du machst also tatsächlich immer noch weiter mit dem Erbrechen. Ja, das tue ich. Steig bitte mal auf die Waage. Sie zeigt vierzig, aber ich sage dem Arzt, sie zeige fünfundvierzig. Der Arzt kontrolliert das nicht. Fünfundvierzig ist ganz gut. Jedenfalls einigermaßen. Ihr bildet euch doch wohl nicht wirklich ein, dass ich irgendwann damit aufhören will? Ha!
Die Woche vor dem Arztbesuch hatte ich sehr energisch mit dem Vorsatz begonnen, dass dies eine Woche sein würde, in der ich es kein
Weitere Kostenlose Bücher