Stalins Kühe
früher schon ergangen.
MIT
HUKKA
ZUSAMMENZUBLEIBEN erforderte Geld, allzu viel Geld, Geld für Lebensmittel, Alkohol und Amphetamin. Für Beruhigungsmittel. Für Zigaretten. Auch für Schmerzmittel, damit das vom Hungern herrührende Dröhnen nicht zu Migräne führte, sondern lediglich ein Kopfschmerz blieb. Finanziell hätte ich es mir erlauben können, entweder ein wenig zu essen und ein wenig Alkohol zu trinken oder nur Alkohol in ordentlicher Menge zu konsumieren; zusätzlich auch noch Bulimie konnte ich mir nicht leisten. Auch Amphetamin und Bulimie war eine zu kostspielige Kombination. Zum Glück waren die Beruhigungsmittel so günstig, dass man sie mit jeder Gleichung kombinieren konnte. Auf die Zigaretten dagegen konnte ich in keiner Kombination verzichten. Ich hätte es wohl gekonnt, aber bei meinen Gleichungen kam man nicht durch Arbeiten an Geld. Wieder musste ich mir etwas einfallen lassen.
1977
Lassen die meinen Vater endgültig in Ruhe?
Lassen die mich einreisen, gehen die Einladungspapiere durch?
Wird jemand in zwanzig Jahren noch estnisch sprechen?
Katariina hat Angst vor dem Telefon. Es ist zum Sprechen da, aber man kann daran nicht sprechen. So als könnte man nicht atmen, obwohl man es muss. Außer von der finnischen Sicherheitspolizei bekommt Katariina keine Anrufe, manchmal, ganz selten, ruft ihr Mann aus Moskau und noch seltener die Schwester aus Haapsalu an. Der Akzent der Frau mit der warmdunklen Stimme ertönt nicht mehr im Hörer, aber man kann nie wissen.
Draußen ist es so kalt wie in Sibirien.
Ich möchte nach Hause.
1951
Die ersten Jahre von Sofias Schwester Leeve sind nichts als Hunger und Kälte. In Nord-Komi gibt es nichts. Nur die von den kurz zuvor abtransportierten Gefangenen erbauten Baracken, deren Fußboden die Erde ist. Es wachsen keine Bäume, und es steht nicht so viel Holz zur Verfügung, dass man für die Verstorbenen Särge zimmern könnte. Beziehungsweise, man schustert etwas Sargartiges aus herbeigebrachten Holzstangen zusammen, aber die Abstände zwischen den Stangen sind so groß, dass das Seidenkleid des toten Mädchens dazwischen wie eine Fahne aufflattert, als der Sarg auf einem Ochsenkarren fortgebracht wird – Pferde gibt es nicht, und die würden hier auch nicht überleben. Zwar haben auch die Ochsen keinen Stall, sondern – egal, wie stark die Fröste auch sein mögen – nur Unterstände, und ihre Mäuler werden dann zu rissigen Blutklumpen. Das Seidengeflatter des toten Mädchens fällt so vielen Augenpaaren auf, dass es in der Nacht am Grab eine ordentliche Prügelei um das Kleid geben wird.
In den Dörfern bestehen die Wände der Häuser aus einer Mischung von Ton und Dung, die Dächer aus Grasbülten. Wie kann man hier leben? Nach dem Arbeitstag steht etwas Land für eigene Zwecke zur Verfügung, aber weder Werkzeug – wenn man kein eigenes hat – noch Zugtiere. Die Felder müssen mit dem Spaten gepflügt werden. Als Beilage zu der täglichen Brotration, die gegen Arbeit ausgegeben wird, isst man Blumenzwiebeln, Beeren und Wurzeln, aus denen auch Suppen gekocht werden. Die Brotmenge für dieKinder zerkrümelt nahezu auf ein Nichts, wenn die Kinder so klein sind, dass sie ihre Arbeitsnorm nicht erfüllen können. Wie kann man hier leben? In der Nachbarschaft sterben sechs Männer an Vergiftung, nachdem sie von toten Tieren gegessen haben.
Leeve weint heimlich draußen, als sie hört, dass aus der Freundin ihrer Kindheit fern in der Heimat eine Heldin der Arbeit geworden ist, denn die Frau ist jetzt Melkerin im Kolchos und hat Kühe des Kolchos in ihren großen Kuhstall aufgenommen, eine Heldin der Arbeit, die sogar ausgezeichnet worden ist, aber an Leeve schickt sie nichts. Vielleicht bekommt sie Leeves Briefe nicht. Vielleicht bekommt sie sie wirklich nicht, nickt Leeve und weint heimlich, denn sie möchte nicht, dass ihre Tochter das Weinen und den Hunger ihrer Mutter sieht. Eine Heldin der Arbeit hätte etwas zum Schicken, Sofia hingegen nicht, denn Sofia und Arnold müssen alles tun, um ihr Soll im Kolchos zu erfüllen. Sofia schreibt sofort an Leeve, als sie erfährt, wo ihre Schwester ist. Die anderen bekommen Pakete von zu Hause, falls ein Freund es geschafft hat, ihr Eigentum in Sicherheit zu bringen, und es ihnen nun nach und nach hinterherschickt. Lebensmittel und Kleidung. Der Inhalt der ersten Sendungen ist irgendwo unterwegs verschollen, und stattdessen sind als Gewicht Steine hineingepackt worden, aber mit der Zeit gelangen
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