Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
Vom Netzwerk:
kann.
    Zusätzlich zu den Sollkontingenten gibt es eine Landwirtschaftsgebühr von 216 Rubeln, obwohl Arnold für seine Arbeit im Kolchos nicht einmal 200 Rubel im Jahr erhält. Und es gibt die Versicherungen und die Kinderlosigkeitsgebühren, die alle Ledigen, Alleinstehenden und Menschen mit wenig Kindern zahlen müssen, das heißt, Familien mit weniger als drei Kindern, also auch Arnold und Sofia, jeweils fünfundzwanzig Rubel. Immerhin ist das Milchsollvon fast neunhundert Litern auf nur etwas über hundert Liter gesenkt worden.
    Die Anzahl der Tiere wird in regelmäßigen Abständen überprüft.
    Der Parteifunktionär Alfret Silm geht von Haus zu Haus und notiert Zahlen: ein Schaf, eine Kuh, ein Schwein. Katariina und Linda verstecken das zusätzliche Schwein für diese Tage in der hinteren Kammer und bewachen es, füttern es und kratzen ihm den Bauch, damit es während des Besuchs von Alfret Silm ruhig bleibt.
    Alfret Silm ist nicht Arnolds und Sofias Freund, wohl aber der von Karla, sogar ein so guter Freund, dass er Karla glaubt, als der sagt, im Stall stehe nur eine einzige Kuh, und das nicht nachprüft. Aus Karlas und Elfriides Haus ist manchmal ein für eine einzige Kuh und ein einziges Schwein zu gewaltiger Lärm zu hören, aber vielleicht liegt der Fehler ja in Sofias Ohren, weil Alfret, der dort vorbeischaut, nichts entdeckt, was Maßnahmen erfordern würde.

ICH
KANN
NICHT mehr atmen. Ich muss aufhören zu sprechen. Ich muss meinen Körper zum Schweigen bringen, muss ihn fliegenklatschenplatt zu Boden schlagen. Er verlangt nicht mehr viel. Noch ein wenig … nur wenig. So ungeheuer wenig.
    Ich bin eine Greisin, ein Vierteljahrhundert alt, deren Knochen mürbe geworden und deren Cholesterinwerte unmäßig hoch sind, so wie es sich für eine ordentliche Bulimarektikerin gehört. Deren ausgetrocknete Haut rissig ist und vom Schweiß gewaschen wird, von kaltem oder heißem. Jedenfalls wie bei einem richtigen Profi. Wie bei einer Person, die diese Sache so gut beherrscht, dass man sie nicht behandeln, ihr nichts wegnehmen kann. Das ist meine Sache. Ganz allein meine. Ich bin ihr Ebenbild, und sie ist mein Ebenbild – wir haben einander hervorgebracht, aber nur eines von uns ist bereit, das andere zu töten, und dieses eine bin nicht ich.
    Ich kann mich nicht in nichts verwandeln.
    Ich habe es versucht.
    Ich habe mir den Mund zugebunden und für meinen Körper eine Sprache erdacht, in der die Kilos Worte und die Silben Zellen sind, in der die geschädigten Nieren und das zerrissene Gedärm eine richtige Grammatik sind – ganz anders als diejenige, die sich im Körper eines neugeborenen Kindes befindet. Ich habe geschwiegen und gesprochen. Meine Kehle ist trocken und rau, die Bulimie macht aus allem eine Einöde, aus dem Regenwald eine Wüste, mein Versuch zu singen klingt wie das Krächzen einer Krähe, dieWorte sind undeutlich, die Sätze haben keinen Sinn, wie könnte ich sie also selbst verstehen, und dennoch muss ich existieren. Daran führt kein Weg vorbei. Ich muss existieren. Das muss ich wissen. Ich muss wissen, was ich empfinde. Ich muss wissen, dass das hier ich bin. Ich muss verstehen, dass dieser Körper vertrocknet, verdunstet, verschwindet, ja, das tut er, aber so extrem langsam, dass es bis zum Nichtvorhandensein ein extrem langer Weg ist, und auf diesem langen Weg kann ich alles Mögliche bedenken, auch wenn ich gar nicht die Kraft habe, auch wenn ich mich bemühe, nichts zu denken, stoße ich doch auf alle möglichen Menschen und gerate in alle möglichen Situationen, auch wenn ich mich noch so sehr mit Gedankenlosigkeit und Nicht-Vorhandensein zu entkräften versuche, ist der Weg doch zu weit, und um ihn zurückzulegen, bedarf es allzu vielen Wollens, und das Wollen bedeutet Existieren und das Existieren Denken. Was für ein endloser Weg.
    Ich habe keinen Mund mehr, kein Gesicht.
    So ist es also, in seinen Knochen zu verschwinden. Und in den Spiegeln eines Spiegelkabinetts.
    Der Staub auf dem Weg, der zu meiner Tante führt, passt gut zu meiner trockenen Kehle. Der Weg ist immer noch nicht repariert. Neben dem Schlachthof ist dasselbe Rohr ebenso kaputt wie vor fünfzehn Jahren. Aus dem Rohr entweicht immer noch Dampf, wie damals vor fünfzehn Jahren; die sowjetische Arbeit war ja nie besonders schnell, und das, was in Estland nach dem Ende der Sowjetmacht unerledigt geblieben war, würde es auch bleiben.
    Das Knarren der Tür meiner Tante und der Geruch des mehrstöckigen Holzhauses.

Weitere Kostenlose Bücher