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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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ich NEIN sage und wenn ich in der Kneipe Kallion Kaivotorppa ein Bier ablehne, sie würden fragen, was ich mir eigentlich einbilde, ob ich etwa glaube, besser zu sein als die anderen, wie ich es mir leisten könne, ich, einen anständigen und ehrlichen finnischen Mann abzuweisen, dessen Land immerhin ständig an der Spitze der Entwicklung steht.
    Vielleicht hatte Mutter recht. Estland war ja nicht Estland, und nicht einmal ein Teil der Sowjetunion, sondern einfach nur Russland. Alle Esten wurden Russkis genannt, und als Nächstes verstand man dann, dass nicht nur jede russische, sondern auch jede estnische Frau eine Hure war. Eine Russenhure auf einem finnischen Markt mit einem Schild um den Hals, auf dem Foze 50 Mark stand, oder als Professionelle auf den Straßen von Tallinn so die Hüften wiegend, dass der Sohn Finnlands völlig von der Rolle war, denn … Psst, solche Frauen gibt es in Finnland nicht! Die finnischenMädchen reichten als Frauen nicht an die Russinnen heran, wurden aber dadurch entschädigt, dass sie das Schwesternvolk bemitleiden, Altkleidersammlungen veranstalten und Kontakte zu einer Familie knüpfen konnten, der sie die abgelegten Kleider ihrer Kinder und allen möglichen unnützen oder schadhaften Kram bringen konnten. Mitleid und Gnade. Ich glaube, das war eine ausgezeichnete Entschädigung. Auch die Unternehmen brachten gern ganze Posten von Ausschussware nach Estland, denn dafür waren sie gut genug.
    Als mehr Besuchsreisen nach Finnland erlaubt wurden, konnte man die bekannte Familie einladen, sie die Wunder Finnlands bestaunen lassen und sich ordentlich stolz fühlen, Finne zu sein. Man konnte Estinnen als Erdbeerpflückerinnen auf die Landgüter einladen, da sie nun mal billigere und fleißigere Arbeitskräfte waren als die Mädels mit Levi’s-Hintern aus dem eigenen Land. Von dort holte sich auch Irenes Vater die dritte – oder war es die vierte? – estnische Ehefrau, vom Erdbeerfeld weg eine Einundzwanzigjährige, die nach der Hochzeit ganz brav die alten Trainingsanzüge von Irenes Vater auftrug, da seiner Ansicht nach andere Kleider nicht nötig waren. Irene fand die neue Frau ihres Vaters dumm und nannte sie auch die Dumme, und sie lehnte es ab, sich ihren richtigen Namen zu merken, und auch ich habe ihn wohl niemals gehört. Sie musste … drei Jahre älter gewesen sein als wir … so war es wohl. Die Dumme.
    Irene war meine beste Freundin.

PROSTITUTION
GAB
ES in der Sowjetunion offiziell nicht, keine organisierte und keine unorganisierte. Sowjetbürger konnten offiziell weder Prostituierte, Schwarzhändler, Geldwechsler, Zuhälter noch Diebe sein, da ein Sowjetbürger nur Sowjetbürger sein wollte und die Moral eines Sowjetbürgers solche Dinge nicht erlaubte. Und kein einziger Sowjetbürger wollte den Sowjetstaat verlassen und in den Westen gehen, um teilzunehmen an den Intrigen der Kapitalisten, an der westlichen Unterhaltungskultur und der von der Bourgeoisie ausgeübten Unterdrückung der Arbeiterklasse. Natürlich nicht. Im sonnigen Sowjetland gab es keinen Hunger, keinen Mangel, keine Bestechung und keine Kriminalität, ganz zu schweigen von Serienmördern – für die Untersuchung einer solchen Lächerlichkeit durfte kein einziger Polizist seine Zeit, Papier oder Archivraum verschwenden. Und was hieß das schon, dass sich hier und da ausgeblutete Leichen fanden? Westliche Propaganda, mit der die Sowjetehre in den Schmutz getreten werden sollte! Waren es nicht gerade die westlichen Spione, die solche Gerüchte verbreiteten? Die Helfershelfer eines westlichen Spions? Westlich gesinnte Verräter? Ein allzu weißer Este? Was, politische Gefangene? Die gibt es in der Sowjetunion nicht! Erzählen Sie doch mal, wer das behauptet? Wir wollen uns mit ihm unterhalten, nur gemütlich bei Kaffee oder Tee unterhalten.
    Mutter hat das Wort Hure wohl niemals verwendet. Vielleicht fand sie es zu »hässlich«. Sie benutzte unbestimmte Pronomen wie »solche« oder »derartige« oder »das sind wieder welche von denen« oder »da geht eine von denen«. Sie benutzte auch das Wort Lits , Schlampe, aber das enthält nichts Spezielles, auf den eigentlichen Beruf Hinweisendes. Tatsächlich habe ich das Wort Hure wohl erstmals im Alter von acht Jahren in Finnland gehört. Damals erzählte mir Mutter, was es bedeutet – eine käufliche Frau. Viele meiner Altersgenossen kannten die Bedeutung des Wortes nicht, sondern bezeichneten mal dies, mal jenes als Hure, und dann erwiderte ich altklug,

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