Stalins Kühe
schon nach innen wölbten, waren die Treppenstufen in der Mitte zu Vertiefungen ausgetreten. Kinderkackefarbene und hellgrüne Wände, Türen, Fußboden und Decke, ein schwarz gestrichener Ofen, graue Ladentische. In diesem Haus waren Mutter und ich oft zu zweit bei Olja zu Besuch gewesen, die in dem Geschäft als Verkäuferin arbeitete. Die ursprünglichen Fußbodenbohlen waren mit einem Teppichboden aus Kunstfaser sowjetischer Provenienz bedeckt, der glatt sein sollte, sich aber wellig verworfen hatte und den man mit der Hand hätte hochheben können, wenn man ihn an einer Ecke gepackt hätte, der aber eigentlich sehr gut die ganze Sowjetunion beschrieb. Schwaches Licht und Rechenbrett. Tote Fliegen zwischen den Fenstern.
Olja trug oft Hosen aus blau-grün gestreiftem Jeansstoff, die Mutter zum Verkaufen mitgebracht hatte – das waren Oljas Favoriten, und die wollte sie wohl selbst behalten –,so sah es aus. Und ihre wunderbaren Haare, so lang und dick, und ihre Stimme wie die frischesten und weichsten Iris-Toffee – Bonbons, estnische Toffees. Anna hatte Olja gern, obwohl sie wusste, dass ihre Tante Linda die Frau nicht ausstehen konnte, weil Linda ihrer Ansicht nach alles hätte bekommen müssen, was bei Olja in den Verkauf kam. Die Beziehung zwischen Olja und Mutter war rein geschäftlicher Natur, aber das glaubte die Tante nicht. Olja war auch deshalb interessant, weil sie ein so grelles Lippenrot verwendete, wie Anna es in Finnland noch nie gesehen hatte, und in Estland gehörte ein Rot dieser Sorte nicht zu der Welt von Mutter, ihren Verwandten und deren Kreisen. Olja war die einzige Rotlippe, die Mutter offenbar sogar gern hatte. Mutter fand, ein Rot dieser Art sei zu russisch, auch Mutters Cousine benutzte es, nachdem sie einen russischen Offizier geheiratet und mit ihm Kinder bekommen hatte, die niemals die Sprache ihrer Mutter lernten, obwohl sie immer noch Estnisch sprach. Der russische Offizier wollte nämlich nicht, dass seine Kinder etwas so Unnötiges lernten.
Mutter hätte auch sonst nichts angezogen, was so rot war wie die Sowjetunion, und sich schon gar nicht mit so etwas die Lippen bemalt oder eine solche Farbe geküsst, geleckt oder gegessen! Niemals! Und auch in Finnland hatten dort, wo Mutter wohnte, rote Vorhänge, Tischtücher, Möbel oder Teppiche nichts zu suchen. Alles andere, aber nichts Rotes! Nicht einmal zu Weihnachten … Und als Anna sich dann mit dem allergrellsten von allen Rottönen die Haare färbte – noch vor Irene, Irene tat das erst nach Anna –, drehte Mutter sich um, sie war gerade beim Backen, wandte sich wieder dem Tisch zu und schlug Anna den Hefeteig über den Kopf, die ganze Schüssel voll, rieb ihn in Annas Kopfhaut ein und schleifte Anna in die Diele, warf sie zur Tür hinaus auf den Hof, während auf dem Weg daneben gerade die Nachbarsfamilie mit ihren Sommerhaussachen vorbeiging.
1973
Katariina ist bei ihrem Finnen in Moskau zu Besuch. Das Hotel der Finnen ist voll von Frauen und vom Russisch der Frauen. Katariina unterhält sich mit einem Freund des Finnen und fragt, ob er Russisch spreche, da die Frauen kein Finnisch können.
Der Mann ist verdutzt. Nein, natürlich nicht. Wozu sollte er Russisch sprechen?
Na, wie sprichst du dann mit deinen Freundinnen?
Was gibt es mit denen zu besprechen?
Nach einem Augenblick des Schweigens fragt der Mann Katariina, ob sie Tampons benutze.
Katariina steht auf, nimmt ihren Mantel und geht hinaus. Katariinas Finne läuft ihr hinterher, ist rot im Gesicht und verlegen und still.
HUKKA
WOLLTE
JA alles über mich wissen.
Vielleicht habe ich es dann deshalb nicht erzählt.
Oder deshalb, weil ich nicht wollte, dass Hukka anfing, zusätzlich zu den vielen anderen Kosenamen auch noch einen neuen für mich zu verwenden: mein estnisches Flittchen. Das wäre ein Witz gewesen, der gut zu Hukka gepasst hätte. Kein bösartiger, sondern ein freundlicher. An einem Freitagabend, wenn wir vielleicht in eine Bar gehen und unterwegs am Kiosk Zigaretten kaufen wollten und dort am Zeitschriftenständer estnische Mädchen standen, die in den Pornozeitschriften ihre Fotos suchten und gemeinsam darüber kicherten. Oder abends zu Hause, zu zweit bei Kerzenschein, während die Katzen herumtrippelten. Dann würde Hukka es sagen. Flüsternd. Und ich würde lächeln müssen. Oder vielleicht dann, wenn ich Mutter vom Hafen abholen wollte und den Gürtel meines Ledermantels band, genau bei dem Schritt, mit dem ich die Wohnung verließ, als
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