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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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war versiegt, und Anna hatte die Watte in das Portemonnaiezurückgesteckt, da sie es nicht gewagt hatte, die blutige Nasenwatte auf den Fußboden zu werfen.
    Prahti – Müll. Mutter sagt es zu dem Zollbeamten auf Russisch, zur Großmutter später auf Estnisch, als sie von dem Vorfall erzählt. Die Zöllner finden nichts. Anna und Mutter können aufs Schiff. Auf dem Schiff fängt die Nase wieder an zu bluten. Mutter beeilt sich, das Gepäck gleich in den einzigen Raum zu bringen, in dem nur zugbankartige Sitze vorhanden sind – so heftig orangefarbene, dass man davon fast niesen muss. Mit den Sitzplätzen muss man schnell sein, denn davon gibt es viel weniger als Reisende. Dann geht Mutter und holt Papier für Anna. Mutters Hände zittern immer noch ein wenig, als sie zurückkommt. So schwer waren die Taschen gewesen.
    Und Großmutters Trauring im Portemonnaie, eingewickelt in Watte, war ebenso schwer gewesen wie alle Taschen zusammen.
    Die Tante musste es gesehen oder gehört haben.
    Als Großmutter in der Nacht Mutter ihren Ring gab. Als Anna schlief und die Wanduhr tickte. Als die Vorhänge vor die Fenster gezogen waren und die Stimmen gedämpft. Auch die Tante sollte schon schlafen in dem anderen Zimmer am Ende des Ganges. Und alle Zwischentüren waren geschlossen und der Haken vorgelegt, auch an der Tür des Zimmers, in dem Mutter, Anna und Großmutter übernachteten.
    Wie konnte Linda so etwas tun!
    Mutter ist es leid, der ganzen Familie Deodorant und allen Amtspersonen Kaffeepackungen und jedem Entgegenkommenden Plastiktüten mitzubringen. Auf dem Schiff weint Mutter nicht mehr wie im Hafen. Dort weint niemand sonst. Nur Großmutter und Mutter. Nicht diejenigen, die von weiter her und seltener kommen, das erste oder das letzte Mal. Die Gesichter der im Hafen Zurückbleibenden sind verzerrt vor Neid. Keine ordentlichen Umarmungenoder Küsse. Das Gesicht der Tante ist kalt und glatt. Sie sieht ihrer Schwester oder Anna nicht in die Augen und sie kaum direkt an. Die Mundwinkel sind nicht herabgezogen wie auf Beerdigungsfotos, und sie lächeln auch nicht, nicht einmal der Form halber. Die Tante hat keine Mundwinkel. Nur die Großmutter ist voller Runzeln, ihre Augen triefen und sind verweint.

DIE
ORANGEFARBENEN
BÄNKE stehen in dichten Reihen, dazwischen einige Aschenbecher, an den Wänden Schließfächer in der Farbe der Bänke. Die müde Mutter geht trotzdem in den Tax-free, um für Anna Schokolinsen und Ananasbonbons in der Blechdose zu kaufen und vielleicht auch pfeifende Lollis. Als sie gerade losgehen will, stöckelt Mare, die berühmteste Hure von Tallinn, mit ihrem finnischen Mann vorüber. Mutter nickt Mare zu. Anna späht heimlich zwischen den Bänken hindurch nach der Frau mit dem dicken, schwarzen Zopf und den leicht orientalischen Zügen, die den Mann um einige Haupteslängen überragt und einen großen schwarzen Strohhut, zehn Zentimeter hohe Absätze und ein sommerbirkengrünes Superminikleid trägt und neben sich eine schwarze Katze hat, deren Leine genau auf den Farbton des Kleiderstoffs abgestimmt ist. Das also ist Mare. Die Mare.
    Ich sehe Mare später wieder, in anderen Jahren, auf dem Schiff und in Tallinn, bei der Anmeldung in der Abteilung für ausländische Visa, in einem weißen, superkurzen und extrem knappen Spitzenkleid, darunter anilinrote Strumpfhosen und wieder die schwindelerregenden Absätze. Ich beschließe, dass ich eines Tages auch solche haben werde.

WIR
MUSSTEN
VORSICHTIGER werden. Olja nickt über der Kaffeetasse Mutter zu, die zurücknickt im Hinterzimmer des Kommissionsgeschäfts, in das Olja sie führt, nachdem sie den Laden geschlossen hat. Sonst würde es ihnen schlecht ergehen. Mutters Gesicht, in dem sich eben noch der gemütliche Besuch in der Eisdiele und der Sonnenschein vor der Feuerwache gespiegelt hat, wird wachsam. Was ist passiert? Ihr Mund öffnet sich ein wenig, so als bekäme sie nicht genug Luft. Etwas ist geschehen. Auch Anna wartet darauf, dass Olja es erzählt, was ist passiert, was?
    Der Rechnungsprüfer war da gewesen. Er hatte in den zum Verkauf stehenden Kleidern ein wenig zu langnasig herumgeschnüffelt. Vor drei Tagen. Am Dienstag. Am Nachmittag und einfach so, er war hereingekommen und herumgewandert, hatte hier ein Hemd und dort einen Mantel angehoben, hatte dann seine Lesebrille mit den dicken Gläsern und dem dickbraunen, robusten Gestell aufgesetzt und sich vergewissert, dass in dem Quittungsordner alle Quittungen vorhanden und auf den

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