Stalins Kühe
Begehrenswerte war immer Bückware, die unter dem Ladentisch hervorgeholt wurde. Von wem? Von wo? Wann?
Mutter bringt neue, ungetragene Sachen, Olja oder jemand anders kauft und trägt sie, bis sie oder er bereit ist, sie an das Kommissionsgeschäft weiterzugeben, wo sie zu einem höheren Preis als dem verkauft werden, den Mutter dafür bekommen hat. Die meisten Sachen verkauft Olja allerdings über andere Kanäle. Alles, was Mutter mitbringt, ist gefragt und gejagt. Die Geschäftsbeziehung von Olja und Mutter ist wegen ihrer Direktheit nach Mutters Geschmack; Mutter bringt Olja keine Geschenke oder Mitbringsel, die braucht sie für die Verwandten und alle Leute, die geschmiert werden müssen, in Hülle und Fülle, gut, wenn sich im Gepäck noch Platz für Verkäufliches findet. Die Tante jedoch ist davon überzeugt, dass Mutter alle anderen außer ihrer eigenen Schwester und deren Kinder mit Geschenken überhäuft, alle anderen bekommen immer alles, und sie bekommt nur Deodorant und Kaffee. Ist das fair? Obwohl es in Finnland alles gibt, was man sich nur vorstellen kann. Die ganze Stadt spricht doch davon! Dass Katariina diesem dieses und jenem jenes und einem Dritten dies und das geschenkt hat. Was die Tante denn denjenigen sagen solle, die sie bitten, ihrer Schwester zu sagen, sie möchte doch so eine Jeansjacke oder Jeans oder Turnschuhe mit Klettverschluss mitbringen? Dass Katariina das nicht mache? Wie soll sie erklären, dass Mutter für andere Leute Sachen mitbringt, aber nicht für Linda, ihre eigene Schwester?
Natürlich werden Wünsche, Katariina möge doch dieses und jenes mitbringen, auch an Großmutter herangetragen, und die antwortet immer dasselbe, nämlich, dass Katariina aus Finnland mit vielen Pferdewagen angereist kommen müsste, wenn sie auch die Kleider und Haushaltsmaschinen mitbringen sollte, nach denen der Betreffende gerade gefragt hat. Und auf alle Erkundigungen, wie es denn dortsei: genauso wie zu estnischer Zeit. Wann denn Großmutter ihre Tochter besuchen fahre? Mis ma sinna hakkan kolima … antwortet Großmutter, sie wolle nicht dorthin fahren. Was sie denn da solle. Sie wisse auch so, wie es dort ist. Wie zu estnischer Zeit.
Mutter und Anna dürfen die Gewährung ihrer Visa und den Erhalt der Einladungen nicht durch unvorsichtige Reden gefährden, die der Neid und die endlose Gier auslösen könnten. Davon gibt es ohnehin schon genug. Deshalb dürfen sie der Tante, die sich von ihrer Wut zu allen möglichen Äußerungen hinreißen lässt, nicht erzählen, dass jeder Warentausch, den sie mit Olja macht, ein Geschäft ist, für das sie Geld bekommt, und dass die anderen, aus Finnland mitgebrachten »Klamotten« und Kaffeepackungen als Bestechung dienen. Die Tante könnte ihre Schwester aus purer Bosheit anzeigen, deshalb dürfen sie die Tante nicht zu sehr reizen.
In Mutters Diktion werden aus Kleidern Klamotten, und sie selbst ist eine Klamottenhändlerin, die eine gierige Schwester mit einer großen Schar von Kindern hat.
AUF
DER
RÜCKREISE im Sommer des Jahres 1982 zeigt der Zoll außergewöhnlich starkes Interesse an uns. Die Kontrolle ist die gründlichste, die wir jemals erlebt haben. Mutters Ringe werden viele Male kontrolliert, ob es auch genau diejenigen sind, die sie in die Zollerklärung eingetragen hat. Jedes nur mögliche Versteck, jede Falte, jeder Saum wird untersucht. Noch einmal die Ringe. Ob es genau so viele sind wie angegeben, und ob sie keine Diamanten oder Perlen enthalten, die nicht in der Zollerklärung erwähnt sind. Unter der grünen Uniformmütze hervor sehen uns ausdruckslose Augen an. Als Mutter ihr Portemonnaie aus Annas Hand nimmt und es dem Zollbeamten zur Kontrolle reicht, hört Anna, wie ihr eigener und Mutters Magen sich im selben Takt umdrehen, das Atmen ist nahezu schmerzhaft, es fühlt sich an wie kalte Schnitte in der Nase, der Zollbeamte öffnet das Fach für die Münzen, Mutter murmelt bedauernd etwas von Nase, Watte und Blut und reißt einen Wattebausch an sich, der auf den Münzen gelegen hat – Annas Nase hatte angefangen zu bluten, kurz bevor sie zum Zoll kamen. Nicht viel, aber doch so viel, dass sie Watte brauchten. Weil alle Taschen so vollgepackt waren und sie es eilig hatten und die Menschen wie in der Sardinenbüchse standen, hatte Mutter nichts anderes tun können, als ihr zu raten, ein Stück von der Watte im Portemonnaie abzureißen. Als geübte Nasenpatientin hatte Anna genau die richtige Ader gedrückt, und der Blutstrom
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