Starbuck. Der Verräter (German Edition)
zum Bell Tower führte. Verkrüppelte Bettler saßen an den Bahngleisen, die an dem Turm vorbeiführten. All diese Männer waren in der Schlacht von Manassas verletzt worden. Hinter dem Turm, neben St. Paul’s in der Ninth Street, stand ein Leichenwagen mit einem Pferdegespann, dem hohe, schwarze Federbüsche aufgesteckt worden waren. Die schwarzen Kutscher trugen weiße Handschuhe und schwarze Gehröcke. Hinter dem Leichenwagen wartete eine kleine Militärkapelle mit schwarzen Armbinden darauf, dass der Sarg aus der Kirche getragen wurde.
Julia überquerte vor den Pferden mit den Federbüschen die Straße, dann ging sie die Treppe zum Kriegsministerium hinauf und fragte den Schreiber in der Eingangshalle, ob Major Adam Faulconer vom Stab General Johnstons im Gebäude war. Der Schreiber musste nicht einmal in seinem Buch nachsehen. «Sämtliche Mitglieder des Generalstabs sind außerhalb der Stadt, Miss. Wir haben Major Faulconer jetzt seit einem Monat nicht mehr hier gesehen, Miss.»
«Hat er einen Brief für mich geschickt?», fragte Julia. Manchmal umgingen Stabsoffiziere den Postweg, indem sie den Militärkurieren ihre private Post in die Stadt mitgaben. «Für Miss Gordon», sagte Julia.
Der Schreiber sah die Briefe auf seinem Tisch durch, aber für Julia war nichts dabei. Sie bedankte sich und ging langsam weiter hügelaufwärts, bog in die Franklin Street ein und versuchte sich darüber klarzuwerden, ob Adams Schweigen sie enttäuschte oder ob es auf eine merkwürdige Weise sogar eine Erleichterung war. Julia hatte Adam geschrieben, dass sie eine Nachricht für ihn hatte, aber keine Antwort erhalten, und langsam überkam sie der Verdacht, dass Adams Schweigen möglicherweise ein Zeichen für einen Sinneswandel war.
Es hatte Julia überrascht, als Adam begonnen hatte, ihr den Hof zu machen, aber es hatte ihr auch geschmeichelt, denn er war ein auffällig gutaussehender Mann und bekanntermaßen sowohl ehrenwert als auch aufrichtig. Adam war außerdem – und Julia war ehrlich genug, um nicht so zu tun, als sei sie blind für diesen Vorteil – der Alleinerbe eines der größten Vermögen in Virginia. Und obwohl sich Julia ständig sagte, dass ihre Zuneigung zu Adam von diesem Umstand in keiner Weise beeinflusst wurde, war ihr dennoch klar, dass er genauso ausgeprägte und dauerhafte Wirkungen entfalten musste wie die unsichtbare Wirkung der Sonne auf die Gezeiten. Julias Mutter lebte in ständiger Scham über ihre Armut und vergällte ihrem Ehemann deshalb das Leben, und wenn sie in die Familie Faulconer einheiratete, konnte Julia die Unzufriedenheit ihrer beiden Eltern mildern.
Aber irgendetwas, überlegte Julia, während sie langsam weiterging, schien nicht ganz echt an ihren Gefühlen für Adam. Das Wort ‹Liebe›, dachte sie, war so ungenau. Liebte sie Adam? Sie war sich dessen sicher, und sie erwartete ein Eheleben voll guter und wohltätiger Werke, das sehr lange währen würde, sogar bis ins nächste Jahrhundert hinein, und jedes Mal, wenn sie über dieses nützliche, gute Leben nachdachte, stellte sie sich ein Leben in eifriger Geschäftigkeit vor, aber nie in Begriffen von Glück und Zufriedenheit. Unglücklich wäre sie gewiss nicht, aber glücklich eben auch nicht, und dann schalt sie sich für die unchristliche Selbstsucht, überhaupt nach eigenem Glück zu suchen. Glück, sagte sie sich, war nicht das Ergebnis angenehmer Beschäftigungen, sondern ein Gefühl, das sich einstellte, wenn man unablässig gute Werke verrichtete.
Aber manchmal, wenn sie mitten in der Nacht aufwachte, der Wind seufzend über die Dächer fuhr und der Regen in den Dachrinnen gluckerte, überkam sie Melancholie, weil sie spürte, wie sehr es ihr an Freude im Leben fehlte. Machte sich Adam, fragte sie sich, jemals Gedanken über die Freude? Er schien so schwermütig, so erfüllt von hehren Zielen und schweren Sorgen. Er sagte, das käme davon, dass ihm der Krieg auf der Seele liege, aber Julia sah schließlich genügend andere junge Leute, deren Liebe und Glück die Kämpfe überdauerte.
Julia wurde bewusst, dass sie die Franklin Street in westlicher Richtung entlangging, was hieß, dass sie bald an dem Haus vorbeikommen musste, in dem Sally Truslow wohnte. Julia hatte den Mut für einen Besuch bisher noch nicht aufgebracht, und sie schämte sich für diese Schwäche. Sie ging auf der anderen Straßenseite an dem Haus vorbei und war von seiner Pracht eingeschüchtert. Schwaches Sonnenlicht lag auf den Fenstern,
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