Starkes Gift
Glaskolben vor sich hin, und Bunter nahm das Glasröhrchen, das über dem Bunsenbrenner lag, aus der Flamme.
»Sie werden feststellen, Mylord«, bemerkte er, »daß die Apparatur frei von Verunreinigungen ist.«
»Ich sehe überhaupt nichts«, meinte Freddy.
»Sherlock Holmes würde sagen, genau das solltest du zu sehen erwarten, wenn nichts da ist«, antwortete Wimsey nachsichtig. »Charles, glaubst du uns auch ohne Beweis, daß Wasser, Kolben, Röhrchen und Hinz und Kunz frei von Arsen sind?«
»Ja.«
»Willst du sie lieben und ehren, in guten wie in schlechten Tagen – Verzeihung, jetzt habe ich eine Seite zuviel umgeblättert. Wo ist dieses Pulver? Miss Murchison, Sie identifizieren diesen verschlossenen Umschlag als den, den Sie aus dem Büro mitgebracht haben, mitsamt dem geheimnisvollen weißen Pulver aus Mr. Urquharts heimlicher Schatztruhe?«
»Ja.«
»Küssen Sie die Bibel, danke. Nun also –«
»Momentchen noch«, sagte Parker, »du hast den Umschlag noch nicht für sich allein getestet.«
»Stimmt auch wieder. Irgendwo ist immer ein Haken. Ich nehme an, Miss Murchison, Sie haben nicht zufällig so etwas wie einen zweiten Umschlag aus dem Büro bei sich?«
Miss Murchison errötete und kramte in ihrer Handtasche.
»Hier – ist noch ein Briefchen, das ich heute nachmittag an eine Freundin geschrieben habe –«
»In Ihres Arbeitgebers Zeit, auf Ihres Arbeitgebers Papier«, sagte Wimsey entrüstet. »Wie recht hatte doch Diogenes, als er seine Laterne nahm, um nach einer ehrlichen Stenotypistin zu suchen! Egal. Geben Sie her. Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen.«
Miss Murchison nahm den Umschlag aus der Tasche und holte den Brief heraus. Bunter nahm ihn ehrerbietig auf einer Entwicklerschale in Empfang, schnitt ihn in kleine Stückchen und ließ sie in den Kolben fallen. Das Wasser blubberte fröhlich, aber das Röhrchen blieb vom einen Ende bis zum andern fleckenlos.
»Passiert bald was?« erkundigte sich Mr. Arbuthnot. »Ich finde nämlich, der Vorstellung hier fehlt ein bißchen Pfeffer.«
»Wenn du nicht still bist, schmeiße ich dich raus«, versetzte Wimsey. »Machen Sie weiter, Bunter. Wir lassen den Umschlag durchgehen.«
Bunter öffnete daraufhin den zweiten Umschlag und ließ vorsichtig das weiße Pulver in den weiten Hals des Glaskolbens rieseln. Alle fünf Köpfe beugten sich gespannt über den Apparat. Und unverzüglich bildete sich, unübersehbar und wie von Zauberhand, ein dünner silberner Fleck an der Stelle des Glasrohrs, wo die Flamme es erhitzte. Von Sekunde zu Sekunde vergrößerte er sich und verdunkelte sich zu einem bräunlich-schwarzen Ring mit einer metallisch glänzenden Mitte.
»Ah, wunderschön, wunderschön«, rief Parker in fachmännischem Entzücken.
»Irgendwie scheint eure Lampe zu rußen«, meinte Freddy.
»Ist das Arsen?« hauchte Miss Murchison.
»Das will ich hoffen«, sagte Wimsey, indem er das Röhrchen vorsichtig löste und gegens Licht hielt. »Entweder Arsen oder Antimon.«
»Gestatten Sie, Mylord. Die Beigabe einer geringen Menge Chlorkalklösung dürfte diese Frage so eindeutig klären, daß jeder Zweifel ausgeschlossen ist.«
Er vollführte diesen weiteren Test inmitten angespannter Stille. Der Fleck löste sich unter Einwirkung der Bleichlösung auf und verschwand.
»Dann ist es Arsen«, sagte Parker.
»O ja«, meinte Wimsey großspurig, »natürlich ist es Arsen. Hab ich dir doch gleich gesagt.« Seine Stimme bebte ein wenig von unterdrücktem Triumph.
»Ist das alles?« fragte Freddy enttäuscht.
»Nicht ganz«, sagte Parker, »aber es ist ein großer Schritt auf unser Ziel zu. Wir haben bewiesen, daß Mr. Urquhart im Besitz von Arsen ist, und durch eine Anfrage in Frankreich können wir wahrscheinlich klären, ob er dieses Päckchen bereits im vergangenen Juni hatte. Ich stelle, nebenbei bemerkt, fest, daß es sich um gewöhnliche weiße Arsenigsäure handelt, ohne Beimischung von Holzkohle oder Indigo, was mit dem Befund der Autopsie übereinstimmt. Das ist an sich schon überzeugend, aber noch überzeugender wäre es, wenn wir Urquhart nachweisen könnten, daß er Gelegenheit hatte, Boyes das Gift zu verabreichen. Bisher haben wir aber nur eindeutig bewiesen, daß er es ihm weder vor noch während noch nach dem Essen in einer Zeit verabreicht haben kann, die für das Eintreten der Symptome nötig wäre. Ich gebe zu, daß eine derartig hieb- und stichfest belegte Unmöglichkeit an sich schon wieder verdächtig
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