Starkes Gift
Urquhart in Wirklichkeit nicht der Erbe war, trieb er ein gefährliches Spiel. Denn wenn die alte Dame starb und das Testament beglaubigt war, würde das alles wahrscheinlich in der Zeitung erscheinen – und sie konnte jeden Tag sterben.
Wie leicht wäre es, dachte er bedauernd, Mrs. Wrayburns Tod ein ganz klein wenig zu beschleunigen. Sie war dreiundneunzig und sehr gebrechlich. Eine Überdosis von irgendwas – eine Erschütterung – ein leichter Schock sogar – Nein, es führte zu nichts, in diesen Kategorien zu denken. Er fragte sich beiläufig, wer wohl bei der alten Frau lebte, sich um sie kümmerte …
Es war der 30. Dezember, und er hatte noch immer keinen Plan. Die eindrucksvollen Bände auf seinen Bücherregalen, Reihen um Reihen Heilige, Historiker, Dichter, Philosophen, spotteten seiner Ohnmacht. All dieses Wissen und all diese Schönheit zusammen konnten ihm nicht den Weg weisen, wie er die Frau, die er mit jeder Faser begehrte, vor dem schimpflichen Tod durch den Strick bewahren konnte. Und er hatte sich in solchen Dingen für ziemlich gescheit gehalten. Von der ungeheuren, undurchdringlichen Blödigkeit der Dinge um ihn herum fühlte er sich eingeschlossen wie in eine Falle. Er knirschte mit den Zähnen und tobte in hilfloser Wut, lief in dem freundlichen, teuren, nichtsnutzigen Zimmer umher. Der große venezianische Spiegel über dem Kaminsims zeigte ihm sein Porträt bis zu den Schultern. Er sah ein blasses, einfältiges Gesicht mit strohblondem, glatt nach hinten gekämmten Haar; ein widersinnig unter einer lächerlich zuckenden Braue klemmendes Monokel; ein zur Vollkommenheit rasiertes Kinn, haarlos, unmännlich; einen ziemlich hohen Kragen, makellos gestärkt, eine elegant geknotete Krawatte, die farblich genau zu dem Taschentuch paßte, das aus der Brusttasche eines teuren, in der Saville Row geschneiderten Anzugs hervorschaute. Er riß eine schwere Bronzefigur vom Kaminsims – ein schönes Stück; noch im Herunterreißen liebkosten seine Finger die Patina – und er spürte einen Drang, diesen Spiegel, dieses Gesicht mit einem Schlag zu zerschmettern – auszubrechen in animalisches Schreien und Gestikulieren.
Wie dumm! So etwas ging nicht an. Die ererbten Hemmungen von zwanzig zivilisierten Jahrhunderten banden einem Hände und Füße mit den Fesseln der Lächerlichkeit. Und wenn er den Spiegel doch zerschlug? Nichts würde geschehen. Bunter würde hereinkommen, ungerührt und ohne das geringste Zeichen der Verwunderung, und würde die Scherben aufkehren und ihm ein heißes Bad mit Massage verordnen. Und andern Morgens würde ein neuer Spiegel bestellt werden, da ja Leute kommen und Fragen stellen und ihr Bedauern über die versehentliche Zerstörung des alten Spiegels ausdrücken würden. Und Harriet Vane würde trotzdem gehängt werden.
Wimsey riß sich zusammen, rief nach Hut und Mantel und fuhr mit einem Taxi zu Miss Climpson.
»Ich habe einen Auftrag«, sagte er, schroffer, als es seine Absicht war, »mit dem ich Sie persönlich betrauen möchte. Ich habe sonst niemanden dafür.«
»Wie freundlich von Ihnen, es so auszudrücken«, sagte Miss Climpson.
»Die Schwierigkeit ist nur, daß ich Ihnen überhaupt nicht sagen kann, wie Sie vorgehen sollen. Es kommt ganz darauf an, was Sie vorfinden, wenn Sie dort sind. Ich möchte, daß Sie nach Windle in Westmoreland fahren und sich an eine schwachsinnige und gelähmte alte Dame namens Mrs. Wrayburn heranmachen, die dort in einem Haus namens Applefold wohnt. Ich weiß nicht, wer sich um sie kümmert oder wie Sie ins Haus kommen sollen. Aber Sie müssen es schaffen, und Sie müssen herausbekommen, wo sich ihr Testament befindet, nach Möglichkeit sogar sehen, was drinsteht.«
»Meine Güte!« sagte Miss Climpson.
»Und was noch schlimmer ist«, sagte Wimsey, »Sie haben nur eine Woche Zeit dafür.«
»Das ist aber kurz«, sagte Miss Climpson.
»Sehen Sie«, sagte Wimsey, »wenn wir nicht einen sehr guten Grund für einen Aufschub liefern können, wird der Fall Vane mit Sicherheit gleich zu Beginn der nächsten Sitzungsperiode aufgerufen werden. Wenn ich die Anwälte der Verteidigung überzeugen könnte, daß auch nur die kleinste Chance besteht, neue Beweise zu finden, könnten sie eine Verschiebung beantragen. Aber im Augenblick habe ich nichts, was man Beweis nennen könnte – nur ein ganz, ganz vages Gefühl.«
»Verstehe«, sagte Miss Climpson. »Nun, niemand kann mehr als sein Bestes tun, und es ist sehr wichtig, Vertrauen
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