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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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den Blick fest auf Mr. Ponds Gesicht gerichtet hielt. Falls die Dietriche – und sie war jetzt fast davon überzeugt – auf ihrem Schreibtisch unzüchtig ihre Spinnenbeine zur Schau stellten, wäre es Wahnsinn gewesen, in diese Richtung zu sehen. »Zu Ihrer Zeit hatten wohl alle Frauen Angst vor Mäusen?«
    »Ja, das stimmt«, gab Mr. Pond zu. »Aber damals trugen sie natürlich auch noch längere Kleider.«
    »Wie unbequem«, sagte Miss Murchison.
    »Sie boten einen sehr anmutigen Anblick«, sagte Mr. Pond. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen helfe, die Kassetten wieder zurückzustellen.«
    »Sie werden Ihre Bahn verpassen«, sagte Miss Murchison.
    »Die habe ich schon verpaßt«, entgegnete Mr. Pond mit einem Blick auf die Uhr. »Ich muß die nächste um halb sechs nehmen.« Höflich nahm er die Kassette FLATSBY COATEN und stieg waghalsig damit auf die unruhige Sitzfläche des Drehstuhls.
    »Das ist überaus freundlich von Ihnen«, sagte Miss Murchison, als er die Kassette wieder an ihren Platz stellte.
    »Nicht der Rede wert. Wenn Sie so nett sein könnten, mir die andern heraufzureichen –«
    Miss Murchison reichte ihm TRUBODY Ltd. und UNIVERSAL Bone Trust an.
    »So«, sagte Mr. Pond, indem er den Stapel vervollständigte und sich den Staub von den Händen wischte. »Nun wollen wir hoffen, daß die Maus bleibt, wo sie ist. Ich werde mal mit Mrs. Hodges über die Anschaffung einer geeigneten Katze reden.«
    »Das wäre eine sehr gute Idee«, sagte Miss Murchison.
    »Gute Nacht, Mr. Pond.«
    »Gute Nacht, Miss Murchison.«
    Seine Schritte hallten den Flur entlang, wurden unter dem Fenster wieder lauter und verschwanden zum zweitenmal in Richtung Brownlow Street.
    »Puh!« machte Miss Murchison. Sie stürzte zu ihrer Handtasche. Die Angst hatte ihr etwas vorgegaukelt. Die Tasche war zu, die Dietriche unsichtbar.
    Sie zog den Stuhl wieder an seinen Platz und setzte sich, als draußen ein Geklapper von Eimern und Besen Mrs. Hodges’ Eintreffen verkündete.
    »Hoho!« rief Mrs. Hodges und blieb beim Anblick der fleißig auf der Maschine herumhämmernden Sekretärin wie angewurzelt an der Türschwelle stehen. »Entschuldigen Sie, Miss, aber ich wußte nicht, daß noch jemand hier ist.«
    »Tut mir leid, Mrs. Hodges. Ich habe noch eine kleine Arbeit zu erledigen. Aber fangen Sie ruhig an. Nehmen Sie keine Rücksicht auf mich.«
    »Macht nichts, Miss«, sagte Mrs. Hodges. »Ich kann ja Mr. Partridges Büro zuerst machen.«
    »Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Miss Murchison. »Ich muß noch ein paar Seiten tippen und – äh – eine Übersicht zusammenstellen – Notizen, verstehen Sie – von einigen Dokumenten – für Mr. Urquhart.«
    Mrs. Hodges nickte und verschwand wieder. Bald verriet ein Poltern oben, daß sie in Mr. Partridges Büro war.
    Miss Murchison wartete nicht länger. Sie zerrte den Stuhl wieder zu den Regalen und nahm nacheinander eilig BONE Trust, Trubody Ltd. Flatsby COATEN , Sir J. PENKRIDGE und BODGERS herunter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie endlich WRAYBURN zu fassen bekam und zu ihrem Schreibtisch trug.
    Sie öffnete die Handtasche und schüttete den Inhalt aus. Der Bund Dietriche fiel klappernd auf den Schreibtisch, wo er zwischen ein Taschentuch, eine Puderdose und einen Taschenkamm zu liegen kam. Die schlanken, glänzenden Stahlhaken schienen in ihren Fingern zu brennen.
    Während sie noch den geeignetsten Haken heraussuchte, klopfte es plötzlich laut ans Fenster.
    Zu Tode erschrocken fuhr sie herum. Nichts zu sehen. Sie steckte die Dietriche in die Tasche ihrer Sportjacke und ging auf Zehenspitzen zum Fenster, um hinauszusehen. Im Lichtschein sah sie drei kleine Jungen, die gerade das Eisengeländer überklettern wollten, mit dem die geheiligten Anwesen an der Bedford Row geschützt waren. Der erste Junge sah sie und zeigte wild gestikulierend nach unten. Miss Murchison machte eine abwehrende Handbewegung und rief:
    »Schert euch weg!«
    Der Junge rief etwas Unverständliches zurück und zeigte wieder nach unten. Miss Murchison konnte zwei und zwei zusammenzählen und schloß aus dem Klopfen ans Fenster, dem Gestikulieren und dem Schrei, daß ein kostbarer Ball aufs Grundstück geflogen war. Sie schüttelte streng den Kopf und kehrte an ihre Arbeit zurück.
    Aber der Zwischenfall hatte ihr klargemacht, daß ihr Fenster weder Vorhänge noch Jalousien hatte, so daß jeder, der auf der Straße vorbeikam, im grellen elektrischen Licht ihr Tun beobachten

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