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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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konnte, als stände sie auf einer beleuchteten Bühne. Zwar bestand kein Grund zu der Befürchtung, daß Mr. Urquhart oder Mr. Pond noch in der Nähe waren, aber ihr schlechtes Gewissen ließ ihr keine Ruhe. Wenn überdies gar ein Polizist hier vorbeikäme, würde er die Dietriche nicht schon auf hundert Schritt Entfernung erkennen? Sie sah noch einmal nach draußen. War es ihre überreizte Phantasie, oder tauchte dort aus Richtung Hand Court eine stämmige Figur in dunkelblauer Uniform auf?
    Miss Murchison floh erschrocken vom Fenster, riß die Dokumentenkassette. an sich und trug sie in Mr. Urquharts Privatbüro.
    Hier konnte man ihr wenigstens nicht zusehen. Wenn jemand hereinkäme – selbst Mrs. Hodges – würde ihre Anwesenheit in dem Zimmer zwar Erstaunen auslösen, aber sie würde jeden kommen hören und vorgewarnt sein.
    Ihre Hände waren kalt und zitterten, und sie war nicht eben in der besten Verfassung, um von Blindekuh-Bills Lehren zu profitieren. Sie holte ein paarmal tief Luft. Nichts überstürzen, hatte man ihr eingeschärft. Nun gut, sie würde sich Zeit lassen.
    Sorgsam suchte sie einen Dietrich heraus und schob ihn ins Schloß. Die Sekunden wurden ihr zu Jahren, während sie ziellos damit herumfuhrwerkte, bis sie endlich den Druck der Feder gegen das gebogene Ende fühlte. Langsam drückte sie mit der einen Hand die Feder hoch, während sie mit der andern den zweiten Dietrich einführte. Sie fühlte, wie sich der Riegel bewegte – noch eine Sekunde, dann gab es ein lautes Klicken, und das Schloß war offen.
    Es lagen nicht viele Papiere in der Kassette. Das erste war eine lange Aufstellung mit der Überschrift: »Wertpapiere im Depot der Lloyd’s Bank«. Dann kamen Kopien von Besitzurkunden, deren Originale auf ähnliche Weise deponiert waren. Es folgte eine Mappe mit Korrespondenz. Teilweise waren das Briefe von Mrs. Wrayburn persönlich, der letzte vor fünf Jahren datiert, ferner Briefe von Mietern, Banken und Börsenmaklern nebst Kopien der hier im Büro gefertigten Antworten, unterschrieben von Norman Urquhart.
    Miss Murchison blätterte das alles hastig durch. Von einem Testament oder einer Testamentskopie war nichts zu sehen – nicht einmal von dem zweifelhaften Entwurf, den der Anwalt Wimsey gezeigt hatte. Jetzt lagen nur noch zwei Schriftstücke auf dem Boden der Kassette. Miss Murchison nahm das erste zur Hand. Es war eine vom Januar 1925 datierte Vollmacht, die Norman Urquhart die volle geschäftliche Vertretungsbefugnis für Mrs. Wrayburn gab. Das zweite war dicker und wurde von einem roten Band ordentlich zusammengehalten. Miss Murchison streifte das Band ab und faltete das Schriftstück auseinander.
    Es war ein Treuhandvertrag, der Mrs. Wrayburns gesamtes Vermögen Norman Urquhart zur Verwaltung übertrug und vorsah, daß er von den Erträgen eine bestimmte jährliche Summe zur Bestreitung ihrer persönlichen Ausgaben auf ihr laufendes Konto überweisen sollte. Der Vertrag war vom Juli 1920 datiert, und darangeheftet war ein Brief, den Miss Murchison in aller Eile las:
     
     
    »Applefold
Windle
15. Mai 1920
     
    Mein lieber Norman,
    vielen, vielen Dank, mein lieber Junge, für Deinen Geburtstagsbrief und den hübschen Schal. Wie schön von Dir, daß Du Dich an Deine alte Tante immer so treu erinnerst.
    Da ich doch nun schon über Achtzig bin, ist mir der Gedanke gekommen, daß es Zeit für mich wäre, meine Geschäfte ganz in Deine Hände zu legen. Du und Dein Vater, Ihr habt die ganzen Jahre so gut für mich gearbeitet, und natürlich hast Du mich, bevor Du von meinem Geld etwas anlegtest, immer brav gefragt. Aber ich werde allmählich so steinalt , daß ich in dieser modernen Welt die Übersicht verliere und nicht einmal mehr so tun kann, als ob meine Meinung irgendeinen Wert hätte. Ich bin eine müde alte Frau geworden, und wenn Du mir auch immer alles noch so schön erklärst, finde ich das Briefeschreiben doch beschwerlich und in meinem hohen Alter auch lästig.
    Ich habe darum beschlossen, Dir die Verwaltung meines Vermögens für die Dauer meines Lebens zu treuen Händen zu übergeben, so daß Du damit nach eigenem Gutdünken umgehen kannst und mich nicht erst jedesmal zu fragen brauchst. Und wenn ich mich jetzt auch noch guter Gesundheit erfreue und bei klarem Verstand bin, könnte dieser glückliche Zustand sich doch jederzeit ändern. Ich könnte eines Tages gelähmt oder geistig nicht mehr ganz da sein oder mit meinem Geld dumme Sachen anstellen wollen, wie

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