Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
einem Minimum an körperlicher Bewegung zustande brachte.
    Außerdem hatte sie ein Stück steifen, schwarz umwickelten Draht gekauft, wie man ihn in Huträndern verwendet. Wenn sie ihn doppelt nahm, zu einem zweifachen Winkel bog und an ihrem Handgelenk befestigte, konnte sie mit Hilfe dieser Vorrichtung einen leichten Tisch ohne weiteres bewegen. Das Gewicht eines schweren Tisches würde der Draht nicht aushalten, fürchtete sie, aber sie hatte nicht die Zeit, sich erst noch etwas von einem Schmied anfertigen zu lassen. Jedenfalls konnte sie es mit dem Draht versuchen. Sie stöberte noch ein schwarzes, samtenes Abendkleid mit langen, weiten Ärmeln auf und überzeugte sich, daß sie die Drähte gut darin verstecken konnte.
    Um sechs Uhr zog sie dieses Kleidungsstück an, befestigte die Seifendose an ihrem Knie – allerdings an der Außenseite, um ihre Mitreisenden im Bus nicht durch unzeitiges Knacken zu erschrecken –, hüllte sich in einen dicken Regenmantel von schottischem Schnitt, nahm Hut und Schirm und machte sich auf, um Mrs. Wrayburns Testament zu stehlen.

17. Kapitel
    Das Abendessen war vorbei. Es war in einem schönen, getäfelten alten Zimmer mit Adam-Decke und -Kamin serviert worden, und es hatte ausgezeichnet geschmeckt. Miss Climpson fühlte sich gestärkt und zum Handeln bereit.
    »Wir gehen in mein Zimmer, ja?« sagte Miss Booth. »Es ist das einzige wirklich gemütliche Zimmer. Natürlich ist der größte Teil des Hauses unbewohnt. Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen, meine Liebe, gehe ich schnell nach oben und gebe Mrs. Wrayburn ihr Abendessen und versorge sie, die Ärmste, und dann können wir anfangen. Ich brauche höchstens etwa eine halbe Stunde.«
    »Dann ist sie also völlig hilflos?«
    »Ja, völlig.«
    »Kann sie sprechen?«
    »Sprechen kann man es nicht nennen. Sie murmelt manchmal etwas vor sich hin, aber zu verstehen ist davon nichts. Es ist traurig, wirklich, und dabei ist sie so reich. Es wird ein Glück für sie sein, wenn sie endlich stirbt.«
    »Die arme Frau!« sagte Miss Climpson.
    Ihre Gastgeberin führte sie in ein kleines, fröhlich möbliertes Wohnzimmer und ließ sie dort inmitten von Kretonnedeckchen und allerlei Zierat allein. Miss Climpsons Blick huschte schnell über die Bücher – vorwiegend Romane, mit Ausnahme einiger spiritistischer Standardwerke – und nahm dann den Kaminsims in Augenschein. Er war, wie meist bei Krankenschwestern, voller Fotos. Zwischen Gruppenaufnahmen mit Kolleginnen und Portraits mit der Inschrift »Von Ihrem dankbaren Patienten« fiel eine Fotografie im Kabinettformat auf, die einen Herrn in Kleidung und Barttracht der Neunziger Jahre neben einem Fahrrad zeigte, das offenbar auf einem freischwebenden steinernen Balkon mit einer Felsschlucht im Hintergrund stand. Das Bild hatte einen schweren, schmuckvollen Silberrahmen.
    »Für einen Vater zu jung«, sagte Miss Climpson, während sie schon den Verschluß an der Rückseite öffnete. »Entweder ihr Liebster oder ein Bruder. Hm! ›Meiner liebsten Lucy in ewiger Liebe, Harry.‹ Demnach kein Bruder. Anschrift des Fotografen: Coventry. Möglicherweise Fahrradbranche. Was ist aus Harry geworden? Offenbar nicht ihr Mann. Gestorben oder untreu geworden. Erstklassiger Rahmen und Ehrenplatz; ein Strauß Gewächshausnarzissen in der Vase – ich glaube, Harry hat das Zeitliche gesegnet. Was sonst noch? Gruppenbild der Familie? Ja. Namen entgegenkommenderweise darunter. Die liebste Lucy mit Ponyfrisur, Papa, Mama, Tom und Gertrude. Tom und Gertrude sind älter, können aber noch am Leben sein. Papa ist Pfarrer. Ziemlich großes Haus – ländliches Pfarrhaus vermutlich. Adresse des Fotografen: Maidstone. Augenblick. Hier ist Papa in einer anderen Gruppe, mit einem Dutzend kleiner Jungen. Also Schulmeister, oder Privatlehrer. Zwei der Jungen haben Strohhüte mit Zickzackbändern auf dem Kopf – also wahrscheinlich Schule. Was ist das da für ein Silberpokal? Thos. Booth und noch drei Namen – Rudermannschaft des Pembroke College, 1883. Kein teures College. Ob Papa gegen Harry war wegen der Fahrradbranche? Das Buch dort sieht aus wie ein Schulpreis. Ist es auch. Mädchenschule Maidstone – für hervorragende Leistungen in englischer Literatur. Na ja. Kommt sie etwa wieder? Nein, falscher Alarm. Junger Mann in Khakiuniform – ›Dein Dich liebender Neffe G. Booth‹ – vermutlich also Toms Sohn. Ob er am Leben geblieben ist? Halt – diesmal kommt sie wirklich.«
    Als die Tür aufging,

Weitere Kostenlose Bücher