Stars & Stripes und Streifenhörnchen
»Applikationsform I 20«. Ich hatte von I 20 in meinem Leben noch nie gehört und fragte, was das sei. Aber Mrs. Gibbs hörte nicht mehr zu und sprach: »Next«.
So endete an einem Freitagmorgen in Harlem der erste Versuch, einen Führerschein zu bekommen.
Der zweite Versuch wenige Tage darauf am Herald Square in Midtown Manhattan verlief zwar erfolgreicher, aber auch nicht ganz pannenfrei. Man kann die theoretische Prüfung dort in Französisch, Griechisch, Hebräisch, Koreanisch, Chinesisch, Russisch und sogar Englisch machen. Ich stellte mich in eine Schlange mit zwei Russen, vier Koreanern, sechs Chinesen, einem Franzosen und drei Amerikanern. Der Mann am Schalter hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Günter Wallraff, und für einen Moment dachte ich, dass Wallraff womöglich die amerikanische Bürokratie undercover untersuchen wolle. Er trug eine rote Weste und einen »I love New York«-Button« am Revers, und das war das mit Abstand Freundlichste, was ich in den Räumen des »Department of Motor Vehicles« bis dahin erlebt hatte. Als ich endlich an der Reihe war, schaute Wallraff auf meine Papiere und sagte, ich müsse jetzt zu Mister Chu. Ich fragte sehr, sehr vorsichtig und freundlich: »Warum?«, und Wallraff sprach: »Das wird er Ihnen schon sagen.«
Zwei Türen weiter saß Mister Chu, ein Supervisor chinesischer Abstammung, in einem fensterlosen Büro. Er besah meine Papiere, machte hier ein Häkchen und dort ein Häkchen und schickte mich zurück zu Wallraff, der nickte und »Setzen« sagte. Ich setzte mich auf eine Holzbank neben die Koreaner, Chinesen und Russen; an der Wand hing ein Schild mit der Warnung »No Talking in the Testroom«, »Reden im Prüfungszimmer verboten«. Wir schwiegen vor uns hin. Die Atmosphäre hatte etwas von Gefängniswarteraum, und Reden hätte vermutlich unsere sofortige Deportation zur Folge gehabt. Die eigentliche schriftliche Prüfung war leicht und offensichtlich noch aus einer Zeit, als Autos in Amerika keine Blinker hatten, denn im Test wurden die Handsignale für links, rechts und Stopp abgefragt, aber ich wagte nicht zu lachen, wegen der akuten Deportationsgefahr.
Die Dame, die mir schließlich den vorübergehenden Führerschein ausstellte, hieß Mrs. Morales und sprach kein Englisch. Zumindest sprach sie kein Englisch mit mir, sondern schob kleine Zettelchen mit Weisungen über den Counter, auf denen zum Beispiel »52 Dollar« stand. Auf dem Tresen klebte ein Schild »Anlehnen verboten«, aber das sah ich zu spät, worauf Frau Morales strafend guckte, aber immer noch nicht sprach. Nach einer Viertelstunde schob sie einen Bogen in einen Drucker, presste einen grünen Knopf, und heraus kam ein Stück zerhäckseltes Papier, was eigentlich mein Führerschein sein sollte und Mrs. Morales' Laune nochmals sinken ließ, weil sie nun die ganze Prozedur wiederholen musste, Name und Adresse, Telefonnummer, alles. Nach weiteren zehn Minuten schob sie mir wortlos den »Interim Permit«, den vorläufigen Führerschein, zu und entdeckte zu meiner Überraschung ihre Sprache wieder, indem sie »NEXT« schnarrte.
Um aus dem vorläufigen Führerschein einen richtigen Führerschein zu machen, muss der Applikant im Staate New York noch einen fünfstündigen Theoriekurs absolvieren, was ihn dann zum eigentlichen Straßen-Fahrtest befähigt. Zu diesem Zweck begab ich mich abends in die »Professional Driving School of the Americas« in der 23. Straße. Wir saßen zu acht in einem kahlen Raum, und Wilma, unsere Instruktorin, wies uns in die Feinheiten des amerikanischen Straßenverkehrs ein. Neben mir saß ein Holländer mit einem Motorradhelm. Ich fragte ihn, wie lange er schon illegal mit seinem holländischen Führerschein durch New York fahre, und er sagte »fünf Jahre«, und dass ihn die Polizei neulich angehalten und mit Stilllegung seiner Kawasaki gedroht habe, falls er nicht… Das kam mir sehr bekannt vor. Wir sahen Walt Disney-Zeichentrickfilme und dann eineinhalb Stunden lang eine Art »Der siebte Sinn« auf amerikanisch. Alle Spielarten von Unfällen kamen darin vor, Autos überschlugen sich oder flogen über Klippen, und in der Rubrik »It happened to me« erzählten verunglückte amerikanische Verkehrsteilnehmer, wie sie sich überschlagen hatten oder über Klippen geflogen waren. Als es um Alkohol und Führerscheinentzug ging, hofften der Holländer und ich, dass nun Bush auftreten und erzählen würde, wie und warum er in den 80-ern trunken den Lappen verlor,
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