Stars & Stripes und Streifenhörnchen
aber der Film datierte leider noch aus der Prä-Lappenverlust-Ära. Nach vier Stunden hatte Wilma Erbarmen mit uns und händigte uns ein Teilnehmer-Zertifikat aus, das uns für die praktische Fahrprüfung qualifizierte.
Amerika ist grundsätzlich ein Land der Zertifikate. Für alles gibt es Zertifikate. Für alles braucht man auch Zertifikate und wenigstens Beglaubigungen. Die Flut an Zertifikaten und Beglaubigungen und Papierkram wird nur noch getoppt durch die Flut an Preisen, den awards. Jeder US-Bürger hat in seinem Leben schon mal für irgendwas einen Preis bekommen. Das ist sehr schön und sollte mit sofortiger Wirkung per Gesetz in Deutschland eingeführt werden, einfach so und zum Wohlfühlen. Es ist leichter, in Amerika einen Preis zu bekommen, als Zertifikate von Behörden. Wer glaubt, deutsche Behörden seien der Gipfel an Bürokratie, leistet in den Vereinigten Staaten Abbitte. Uns war zügig klar, wie Mohammed Atta ein halbes Jahr nach den Terror-Anschlägen des 11. September noch ein neues Visum ausgestellt bekommen konnte. Einen Führerschein hatte Atta im Übrigen auch. Und mir damit etwas voraus.
Das sollte sich an einem klaren Wintermorgen ändern. Mein Kumpel Johannes fuhr meinen Freund Bernd und mich zum Testgelände des »Department of Motor Vehicles« in White Plains, nördlich von Manhattan. Praktische Fahrprüfungen in Amerika sind ebenso leicht wie theoretische Prüfungen, jeder Doofmann besteht sie. In unserem Bekannten- und Freundeskreis gibt es nicht einen, der jemals durchgerasselt wäre. Nicht einen.
Neun Wagen standen in der Schlange vor uns, die Prüferin trug eine blaue Uniform mit einem goldenen »DMV«-Logo auf ihrem Politessen-Häubchen. Sie hatte keinen Namen, sondern firmierte unter »Examiner 804«, was mich an Pathologen erinnerte. »Examiner 804« stieg auf den Beifahrersitz in die Autos der Führerschein-Kandidaten, fuhr mit ihnen fünf Minuten um den Block und kehrte hernach ans Ende der Schlange zurück. Komischerweise machten die Prüflinge nach der Rückkehr ein Gesicht, als seien sie unterwegs dem Leibhaftigen begegnet oder zumindest einer Pathologin. Sie kriegten von »Examiner 804« ein Zettelchen ausgedruckt und schüttelten den Kopf und schimpften. »804« kümmerte sich nicht weiter um die Schimpfenden, stieg aus und in den nächsten Wagen, und die Prozedur wiederholte sich. Fahren, anhalten, Kopf schütteln, schimpfen. Leichen pflasterten ihren Weg. Die Wagenkolonne erinnerte an einen Trauerzug; lediglich einmal freute sich ein junges Mädchen und fiel ihrem Fahrlehrer um den Hals. Der Fahrlehrer wünschte Bernd und mir »good luck«, und Bernd sagte mehrmals »Oh, oh«, als er in die Gesichter der Geprüften schaute. Dann war er an der Reihe und glaubte durch eine freundliche Geste seinerseits, »Hi, I'm Bernd, nice to meet you«, die DMV-Pathologin gnädig stimmen zu können, aber die schüttelte seine Hand widerwillig und herrschte ihn an, sich zügig in den Wagen zu setzen. Fünf Minuten später erschien Bernd mit hochrotem Kopf hinterm Steuer am Ende der Schlange und kriegte die Quittung, »Does not meet Standard for licence. Please reschedule a test«.
Ich hörte ihn fluchen und wollte noch fragen, auf welche Ecke ich besonders achten müsse, aber »804« saß schon neben mir, kontrollierte die Papiere und befahl mit einer Automatenstimme: »Drive«. Ich versuchte, alles richtig zu machen, schließlich sind Fahrprüfungen in Amerika idiotensicher, selbst Bush hat wieder einen Führerschein. Ich schaute öfter als üblich in den Spiegel und sogar über meine Schulter, ich fuhr nicht zu langsam und nicht zu schnell. »804« hatte den Gesichtsausdruck einer Totenmaske, aber das war mir egal, denn ich war gut unterwegs; an einer Ampel sollte ich rechts abbiegen. Wir hatten Grün und die Fußgänger auch, also wartete ich ordnungsgemäß, und plötzlich knarzte die Totenmaske: »That's it.« Ich dachte, der Test sei vorüber und ich hätte bestanden, aber, wie sich herausstellte, sah »804« in mir ein Verkehrshindernis, »ein Lkw hätte uns hintendrauf fahren können«, und auf meiner Quittung stand »poor judgement approaching intersections«, »falsches Einschätzen beim Annähern an eine Kreuzung«. Exakt das stand auch auf Bernds Zettelchen und vermutlich auf allen anderen der Gescheiterten, acht von neun an diesem Morgen. Wir debattierten noch für ein paar Minuten mit der Pathologin, und ich fragte sie, ob es besser gewesen wäre, die Fußgänger zu
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