STASIRATTE
hatten zu Hause ein Telefon gehabt. Meine Eltern zählten zu den Ausnahmen, weil mein Vater im Fernmeldewesen tätig war und es nach vielen Dienstjahren zu einem Telefonanschluss gebracht hatte. Ich freute mich, von hier aus mal in Ruhe zu Hause anrufen zu können. „Hier kannst du auch direkt nach Westberlin durchwählen“, sagte Christine leise. „Wirklich?“, ich war verblüfft. „Das ist ja toll, dann kann ich mal meine Oma anrufen, ohne ewig vorher ein Gespräch anzumelden“, antwortete ich ihr. Sie hatte keine Verwandtschaft im Westen, wusste aber auch, welch mühsames Geschäft es war, nach „drüben“ zu telefonieren. Erst musste telefonisch bei einer Vermittlungsstelle das gewünschte Gespräch angemeldet werden. Wenn irgendwann freie Kapazitäten in den Leitungen vorhanden waren, meldete sich die Vermittlung, indem sie zurückrief und dann zu dem gewünschten Anschluss durchstellte. Da diese Prozedur oft Stunden dauern konnte, musste man in dieser Zeit in der Nähe des Apparats bleiben und traute sich natürlich nicht aus dem Haus. Hier im Hotel, im menschenleeren riesigen Foyer des Veranstaltungsbereichs, würde ich also direkt bei meiner Oma anrufen können. Einmal mehr freute ich mich, es hierher geschafft zu haben.
Christine und ich setzten uns in die bequemen Ledersessel, die zu dieser Zeit verwaist in dem Foyer unter echten, in Kübeln gepflanzten Palmen standen. Ich erzählte ihr ein bisschen von zu Hause und meiner West-Oma, von den Schwierigkeiten, eine Stelle im Palast der Republik zu bekommen, und wie es dann doch hier im Hotel geklappt hatte, und so gewann ichein wenig Vertrauen zu der kleinen Rotblonden mit der tiefen Stimme.
Später kam das Gerücht auf, Christines Verlobter wäre bei der Stasi. Er diente in einem Wachregiment der NVA in Berlin, in dem man angeblich automatisch Mitarbeiter der Staatssicherheit wurde. Als ich das hörte, distanzierte ich mich instinktiv von ihr, obwohl das Thema „Stasi“ damals noch ganz neu für mich war. Zwar hatte ich hier und da inzwischen Bemerkungen aufgeschnappt, in denen es darum ging, dass man sich in Acht nehmen musste und keinem trauen konnte, wenn man Dinge äußerte, die nicht eben mit der Ideologie des Staates harmonierten. Ich hatte mitbekommen, dass dieser Geheimdienst die Sicherheit des eingemauerten Landes mit unheimlichen Methoden unterstützte und unsichtbar agierte. Außerdem bestand er nicht nur aus einer Schar fester Angestellter, sondern jeder und jede konnten von den Hauptamtlichen angesprochen werden, um dann inoffiziell mit ihnen zusammenzuarbeiten. Es ging also darum, die Leute auszuhorchen, um deren wahre Meinung über den Staat zu erfahren.
Dahinter steckte nichts Geringeres als die stete Angst vor der Konterrevolution und ihrer Vorbereitung durch die DDR-Bürger. Und das Jahr 1989 zeigte, dass die Idee so abwegig nicht war. Die andere Meinung zum Sozialismus, die ihn nicht als wissenschaftlich unabänderlich oder allein seligmachend ansah, wurde also mit allen Mitteln verfolgt und bekämpft.
Man hatte keine Chance herauszufinden, wer ein Zuträger war, denn wie sollte das gehen? Über viele gab es Gerüchte, dann hatte hier mal einer was von einem gehört, der von wieder einem anderen ziemlich genau wusste, dass X oder Y ganz sicher dabei war. Bei „Horch und Guck“, bei „der Firma“, einfach „dabei“ oder was alles so an Bezeichnungen gängig war. Man hatte auch schon mal gehört, dass Leute an seltsamen Orten mit komischen Personen gesehen worden waren. Manwunderte sich, warum man in den Westen fahren durfte, oder man wunderte sich, warum nicht. Da musste die Stasi ihre Hände drin haben, war die Überzeugung.
Sicher war, dass man sich nicht als Spitzel bewerben konnte. Es geschah also ganz unerwartet, dass ein Unbekannter an einen herantrat, dachte ich. Aber nach welchen Kriterien wurde der Spitzel ausgesucht? Und was war, wenn man sich verweigerte? Konnte es nicht auch von Nutzen sein, eine Verpflichtungserklärung zu unterschreiben? Man musste doch nicht wahrheitsgemäß berichten oder verhedderte man sich dann im eigenen Lügengestrüpp? Vielleicht konnte man sich irgendwelche Vorteile verschaffen und andererseits unliebsamen Leuten Nachteile? Ist man allein schon deshalb ein geeigneter Spitzel, weil man solche Gedanken hat?
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Pünktlich treffen Gerrys März-, April-, Mai- und Junikarten ein. Immer mit dem speziellen Gruß für mich. Monatlich werde ich dazu aufgefordert, in mich und meine
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