STASIRATTE
antifaschistische Schutzwall nicht auf die Gegner des Sozialismus, sondern nach innen ins eigene Land gerichtet ist“, regte er an. Vielleicht hatte er es gar nicht so ernst gemeint mit dieser Provokation, aber als pubertierende Dreizehnjährige mit einem gewissen Drang in den Mittelpunkt fühlte ich mich ermuntert, den ohnehin unsympathischen griesgrämigen Lehrer mit den Längsfalten im Gesicht mal ein wenig zu ärgern.
Mit pochendem Herzen meldete ich mich in der nächsten Staatsbürgerkundestunde und stellte ihm die bewusste Frage. Was für ein Moment! Erst waren alle Augen auf mich, dann auf ihn gerichtet. Es herrschte Grabesstille. Er holte tief Luft und hatte trotz geschulter Rhetorik tatsächlich ein wenig Mühe, diese entlarvende Frage zugunsten des sozialistischen Systems zu beantworten. Ganz nebenbei war er natürlich durch meine Frage vom eigentlichen Thema, der wissenschaftlichen Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus, abgekommen.
Durch meinen Vorstoß ermuntert, sprangen mir noch ein paar Mitschüler mit ähnlich häuslichem Hintergrund zu Hilfe und legten mit systemkritischen Fragen nach. Unser Lehrer verhedderte sich mit den Antworten und wirkte zunehmend unsouverän. Die eine Hälfte der Klasse genoss den Spaß, die andere Hälfte starrte wütend vor sich hin. Ein schöner Nebeneffekt war es zu sehen, wie schnell fünfundvierzig Minuten vergehen, wenn der Unterricht interessant wird.
Als ich zu Hause von meiner Heldentat berichtet, erschraken meine Eltern zwar etwas, jedoch bemerkte ich auch ein wenig Stolz auf ihre Tochter.
Mit dem Zeugnis erhielt ich dann die Quittung. Die Note für „Gesamtverhalten“ war eine Drei, für ein Mädchen beschämend. In der begleitenden Beurteilung hieß es: „Es hat Jana keine besonderen Anstrengungen gekostet, die gezeigten Leistungen zu erreichen. Kritische Äußerungen sollte sie besser durchdenken. Gesellschaftlich muss sich Jana mehr engagieren.“ Die Rache der Herrschenden hatte nicht auf sich war-ten lassen.
Aber ich war nicht allzu niedergeschlagen, denn ich fühlte mich moralisch im Recht und legte mich in den nächsten Jahren richtig ins Zeug. Das Lernen fiel mir tatsächlich nicht schwer und ich zählte im Abschlussjahr zu den vier Besten der Klasse. Leider wurden aus unserer Klasse nur drei Schüler zur Erweiterten Oberschule zugelassen. Zufällig war ich Nummer vier.
Die Schule achtete darauf, dass jeder der Schüler nach dem Abschluss einen Lehrvertrag in der Tasche hatte. Wenn man selbst nichts hinbekam, wurde sich darum gekümmert. Ich war fünfzehn, als ich mich für eine Kellnerlehre in einem Interhotel entschied. Meine Gründe waren, dass mir nichts anderes einfiel, die Beratung meiner Umgebung eher darauf hinauslief, was alles nicht möglich war, und dass meine beste Freundin es auch machte.
Diese Ausbildung war begehrt, weil man Trinkgeld verdienen und die Arbeitsstelle ein angenehmer Ort sein würde. Ein weiterer Vorteil war, dass man auch ein gutes Grundgehalt erwarten durfte. Dahinter steckte die Theorie, dass es in der sozialistischen Gesellschaft eigentlich keine Knechte und Herren geben sollte. Wenn jemand sich also freiwillig zum Diener machte, sollte dies wenigstens anständig bezahlt sein.
Von den Bewerbern wurde ein guter Notendurchschnitt erwartet und eine gute allgemeine Beurteilung. Mit Ersterem hatte ich keine Probleme, aber die besagte Beurteilung wurde noch einmal Thema im Vorstellungsgespräch. Ich versuchte zu erklären, dass vieles missverstanden worden sei und ich einfach mit meiner Familie viel zu beschäftigt gewesen war, um mich noch mehr gesellschaftlich zu engagieren.
Vier Wochen musste ich warten und zittern, bis die Zusage kam. Damals hatte ich mir geschworen, bloß nicht noch mal irgendetwas anzustellen oder von mir zu geben, womit ich mir selbst das Leben schwer machen könnte.
Mit diesem Stapel Erinnerungen und unter dem Eindruck meiner aufregenden Begegnung mit einem Hauptmann der Staatssicherheit fuhr ich nach Hause zu meinem Freund Paul.
* * *
Heute bin ich glücklich verheiratet und die Jahre mit Paul gehören der Erinnerung an. In diesem Jahr werden wir unseren siebten Hochzeitstag feiern. Doch zuvor feiern wir Mikes Geburtstag. Da sich der Monat Januar nicht für eine Gartenparty eignet, weil kurz nach Weihnachten und Silvester alle Freunde und Verwandten feiermüde sind, plane ich eine Wochenendreise als Geschenk.
Das Bauhaus in Dessau wird es sein. Eines der Ziele, die unsere
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