STASIRATTE
hört interessiert zu und nickt. Die DDR und meine Vergangenheit ist ein Thema, über das wir häufig reden. Wir sind ein Volk und haben die letzten Jahrzehnte denkbar verschieden gelebt. Ob wir je wieder eins werden und den trennenden Ballast ganz abschütteln können, beschäftigt Mike. Er spricht von Michail Gorbatschow und wie seine Politik den Stein ins Rollen brachte.
Ich höre seine Worte gerade nur von fern und bin in meinen eigenen Gedanken versunken, seit Mike das Wort „Ballast“ verwendet hat. Ich trinke einen Schluck von meinem Manhattan. Der Geschmack des Cocktails, den ich das letzte Mal vor der Wende getrunken habe, zieht mich weiter zurück in die vergangene Zeit.
Meine Erinnerungen, mein Makel, alles rückt zusammen und verdichtet sich in meinem Kopf mithilfe des Alkohols zu einem wattigen Gefüge, das sich langsam, aber sicher in den Vordergrund schiebt und deutlich nach außen drängt. Ich sehe meinen Mann mir gegenüber auf dem Barhocker sitzen, so glücklich darüber, dass wir uns gefunden haben und so reinen Herzens dankbar für den Untergang des Sozialismus, dass ich beinahe nicht mehr an mich halten kann. Mach jetzt reinen Tisch, brüllt es aus dem Nebel in mir. Bring es hinter dich. Los!
Als hätte eine unsichtbare Kraft die Regie übernommen, sagt Mike plötzlich den von mir gefürchteten Satz: „Ein Glück, dass du dich nicht mit denen gemein gemacht hast.“
In meinem Innern blitzt und donnert es gleichzeitig. Das Blut braust mir durch die Adern und dröhnt in meinen Ohren, als ich langsam sage: „Doch. Ich habe mich doch mit denen gemein gemacht.“ Mike sieht mich seltsam an, als verstünde er nicht.
„Ich war bei der Stasi.“
Schnell presse ich diese Brocken heraus, endlich, endlich, nicht laut und auch nicht besonders leise. Ich empfinde den Klang meiner Stimme monoton und dumpf. Mechanisch fahre ich fort: „Es tut mir leid, es tut mir so leid, aber es muss jetzt einfach raus. Ich habe schon viel zu lange gewartet, ich kann nicht mehr ...“ Gleichzeitig mit den Worten fließen Bäche von Tränen über mein Gesicht.
„Was?“, Mike starrt mich an.
Das Unwetter in mir hat die Kette gesprengt, die ich fest um mein Geheimnis gezogen hatte. Und wie nach einem reinigenden Gewitter setzt nun der Platzregen ein. Es gießt wie aus Eimern. Ich schluchze und hocke elend auf meinem Barhocker. Nun ist er also da, der Moment der Wahrheit.
Mikes Blick, der fest auf mich gerichtet ist, wirkt fremd, verständnislos, irritiert. „Geben Sie mir bitte einen Cognac“, wendet er sich an den Barkeeper. „Und ...“, er zögert noch einen Moment, um dann entschlossen fortzufahren „... eine Schachtel Zigaretten.“
Ich hocke einfach nur noch da, warte auf nichts, sehe kaum etwas. Irgendwie ist mir, als hätte ich kein Gefühl mehr in den Armen und Beinen. Ringsherum existiert nichts mehr. Ich fühle mich, als hätte ich eine Natter ausgekotzt. Nach einer furchtbaren Anstrengung liegt sie dort am Boden im Dreck, neben mir, aber nicht mehr in mir. Ich habe mich von ihr befreit.
„Das darf doch nicht wahr sein“, höre ich Mike wie aus der Ferne sagen. Er schüttelt dazu mechanisch den Kopf, als könne er das Gehörte auf diese Weise wieder verscheuchen. Er sieht mich an oder vielmehr durch mich hindurch. Meine Schlaffheit wechselt langsam in eine innere Unruhe. Was wird jetzt? Was wird jetzt, wirbelt es mir durch den Kopf.
Eines ist klar: Etwas ist vorbei.
* * *
Paul war noch nicht zu Hause, als ich eintraf. Ich hängte meine Jacke auf und legte meine Handtasche beiseite. Schade, dachte ich, heute wäre es mal besonders schön gewesen, wenn er vor mir zu Hause wäre. Aber das war gar nicht seine Art. Paul war viel unterwegs, schon allein wegen seines abgelegenen Grundstücks. Er wusste natürlich, wann ich Feierabend hatte, aber nur in ganz seltenen Fällen war er schon da, wenn ich heimkam. Zu Anfang hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Dann, nachdem wir schon länger zusammen waren und er seit einigen Monaten bei mir wohnte, beschlich mich der Gedanke, dass er auch gar nicht die Absicht hatte, als Erster hier zu sein. Denn was sollte er hier tun? Die Hausarbeit war traditionell ganz meine Sache. Fernsehen? Er hielt nicht viel davon, vor der Glotze zu sitzen. Viel lieber war er unterwegs, Besorgungen machen, Erledigungen, etwas organisieren. Hier zu Hause war es ihm einfach zu langweilig, insbesondere dann, wenn kein Gesprächspartner da war.
Mit der Zeit hatte ich mich
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