STASIRATTE
Sozialismus. Ganz einfach also. Was Marx und Lenin einst erdachten, verfolgte uns vom Kindergarten an. Diese Thesen, verwoben mit den Heldentaten von Lenin, wurden unseren Köpfen bei jeder Gelegenheit eingehämmert. Seltsamerweise passten sie in jeden Unterricht, wenn ein linientreuer Lehrer es so wollte.
Kurioserweise wurde diese Einstellung von einigen Verbohrten sogar bei Heiratsanzeigen nachgefragt. So konnte man dann lesen: „Mann, 40, blond, 1,70, NR, NT mit m.-l. WA, sucht Partnerin, Haarfarbe egal, bis Mitte 30, NR und m.-l. WA.“
Und nun sollte es offenbar meine Aufgabe sein, Elemente mit falscher Weltanschauung aufzuspüren.
„Hm, tja, das ist ja ein ziemlich umfassendes Thema“, begann ich umständlich und tat so, als müsste ich angestrengt nachdenken.
Dabei war alles so erschreckend banal. Es passierte genau so, wie wir es uns immer ausgemalt hatten. Der Spitzel, vondem niemand weiß, dass er einer ist, gibt willkürliche Informationen an die Stasi weiter. Er kann die Wahrheit berichten, die Tatsachen verdrehen, Geschichten erfinden. Ganz nach Sympathie für die nachgefragten Personen. Die Verratenen können sich nicht wehren, nichts richtigstellen, sich nicht verteidigen. Man kann nur vermuten, wer ein Zuträger ist, und hoffen, dass man nicht selbst zum Ziel des Aushorchens wird.
Bevor diese Gedanken ernste Zweifel an meinem Entschluss aufkommen ließen, hörte ich Micha in die Stille sagen, dass ich doch mit einem der Barmänner anfangen könnte: „Wie lebt er, was macht er im Urlaub, ist er mit seiner Arbeit zufrieden? Schreib doch einfach mal deine Einschätzung auf“, bat er mich.
Ich versuchte, meine Fassung zu behalten, indem ich eine Weile das leere Blatt anstarrte. Ich sah kurz auf, Micha wartete, und senkte den Blick wieder in Richtung Papier. Irgendetwas musste ich jetzt machen, irgendetwas, das meine wütende Energie ableitete. Vielleicht den Daumennagel in das Holztischchen krallen, sodass es Micha nicht sehen konnte. Oder die Zähne ganz fest aufeinanderbeißen. Doch dann könnte er sehen, wie meine Kieferknochen arbeiteten. Ich entschied mich dafür, meine Absätze in den Teppich zu bohren, so fest es nur ging. Es dauerte etwa zehn Sekunden, dann hatte diese kleine Aktion dafür gesorgt, dass Micha mir nichts anmerkte und der Teppichboden eine Delle hatte.
Ich war also ohne Umwege im Denunziantentum angekommen. Beinahe wünschte ich mir, die Übergabe von Rauschmitteln oder Geldkoffern beobachtet zu haben. Stattdessen saß ich jetzt hier und musste erleben, wie ich rasant vom hohen Ross des Spezialagenten zum elenden Schnüffler im Bekanntenkreis mutierte.
Micha wartete und ich grübelte, um Zeit zu gewinnen. Ich dachte an Paul und seine Geschäfte, an die Kristallbar und dasGeld, das dort zu verdienen war. Wenn ich jetzt ablehnte und alles wieder rückgängig machen wollte, was wäre dann? Würden sie dann bei Paul genauer hinsehen oder mich zurückversetzen in den Bankettsaal? Ich schwitzte und trank noch mehr Kaffee.
Micha sah mich an und nickte mir aufmunternd zu. Wahrscheinlich wusste er genau, was in dem Möchtegernkundschafter ihm gegenüber gerade vor sich ging. Dieses Hin- und Hergerissensein von Leuten wie mir, die gar nicht so genau wissen, warum sie hier sitzen. Die Angst hatten vor Nachteilen, wenn sie ablehnten, jedoch über ausreichend Opportunismus verfügten, um schließlich doch einzuknicken. Und die sich immer etwas von dem Arrangement versprachen.
Es war wohl so eine Art Eingewöhnungsphase, die vorbeigehen würde. Micha brauchte bloß abzuwarten und freundlich zu bleiben.
Ich dachte nach. Mein Kollege, der hier auf der Tagesordnung stand, war ein ausgesprochen netter, umgänglicher Typ. Wir konnten gut zusammenarbeiten, er war hilfsbereit und fair. Die Gäste mochten ihn auch und über sein Privatleben wusste ich nicht viel. Seine politische Grundeinstellung kannte ich natürlich schon. Damals genügten die richtigen paar Worte, eine bestimmte Betonung, Sarkasmus statt Beschwerden, um bald zu erkennen, in welche Richtung jemand dachte und fühlte.
Kürzlich hatte er seine Mutter verloren und als er davon erzählte, musste er weinen. Einen Mann in seinem Alter hatte ich zuvor noch nie in Tränen gesehen. Und natürlich kannte ich ein paar seiner Schwächen. Sollte ich jetzt aufschreiben, dass er gern Bier trank und dass er viel rauchte? Ich fragte mich, was man mit solchen Informationen anfangen konnte?
Nach einigen Minuten gab ich mir einen Ruck.
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