STASIRATTE
meinen Brief wohl bekommt. Aber ich warte vergebens. Gerry reagiert nur insoweit, als er die Änderung meines Nachnamens, die sich inzwischen ergeben hat, wohl zur Kenntnis genommen hat, weil er seine Karten fortan entsprechend adressiert.
Meine Zeilen scheinen ihn ansonsten nicht weiter beeindruckt zu haben. Stur geht es weiter.
* * *
Wie bei unserem letzten Treffen, das ich als seltsame Aufnahmefeier in Erinnerung hatte, vorhergesagt, rief Micha einige Tage später wieder an. Zunächst war wieder die Vermittlung am Apparat, schließlich kam er ans Telefon.
„Können wir uns in der nächsten Woche treffen, passt es dir am Donnerstag?“ Ich hatte nichts vor und mit meinem Dienstplan klappte es auch.
„Ja, am Nachmittag kann ich.“ Micha schlug eine Zeit vor und nannte mir eine Adresse in der Prenzlauer Allee. Ich stutzte, schrieb mir aber die Anschrift auf und verstaute den Zettel schnell in meiner Handtasche.
„Also bis dann, Tschüss.“ Er hatte aufgelegt.
Da ich mangels eigenen Telefonanschlusses diese Anrufe immer während der Arbeit bekam, versuchte ich so unbeteiligt wie möglich zu tun, nachdem ich aufgelegt hatte. Allerdings nahmen meine Kollegen kaum Notiz davon, wie sollten sie auch ahnen, wer dort in der Leitung gewesen war.
Am vereinbarten Tag machte ich mich auf den Weg zu der Adresse in der Prenzlauer Allee. Ich fuhr ein paar Stationen mit der Straßenbahn und ging noch ein Stück zu Fuß vorbei an einigen Wohnhäusern des neunzehnten Jahrhunderts, die vor dem Krieg und dreißig Jahren sozialistischem Realismus sehr repräsentativ gewesen sein mussten. Nun fehlte es ihnen großflächig an Stuck in den Fassaden. Einige der Balkone sa-hen so altersschwach aus, dass ich Bedenken gehabt hätte, sie zu betreten.
Nach einer Querstraße lockerte die Bebauung auf und statt der über hundertjährigen kamen ein paar Bauten der Fünfzigerjahren ins Blickfeld, zweckmäßige Vorläufer der späteren Plattenbauten. Dreistöckig mit vier Aufgängen pro Haus standen sie ein gutes Stück von der Straße entfernt und waren mit Rasenflächen umgeben. Hinter den Häusern standen auf den Grünflächen Pfähle mit Wäscheleinen. Es gab genug Parkplätze für die wenigen Mieter, die ein Auto hatten, und einen sonnigen Kinderspielplatz.
Ich suchte die Tür mit der Nummer 5, den Namen „Kloster“ und klingelte. Kurz darauf ertönte der Summer und ich öffnete die hellbraune Tür. Da ich nur eine halbe Treppe hinaufmusste, stand ich sogleich vor einer Wohnungstür. Auf dem Boden im Hausflur vor dieser Türe standen ein Paar Herren- und ein Paar Damenschuhe. Bevor ich diese jedoch genauer in Augenschein nehmen konnte, wurde mir die Tür geöffnet und eine kleine Frau mittleren Alters mit Dauerwelle stand vor mir.
„Ich bin hier verabredet“, sagte ich verblüfft, denn mir war die Situation nicht klar.
„Ja, ich weiß, kommen Sie bitte herein“, sagte sie leise und freundlich. Ich folgte ihrer Aufforderung und befand mich im kleinen Flur der Wohnung, von dem einige Türen abgingen. Sie öffnete mir die nächstgelegene Tür und bot mir an, mich dort ins Zimmer zu setzen. Ich wählte einen Stuhl in der Nähe des Fensters und sah mich um.
„Micha kommt gleich“, sagte die Frau und schloss die Zimmertür.
Langsam setzte ich mich und sah mich um. Das musste wohl mal das Kinderzimmer gewesen sein. Es war länglich und schmal, ein sogenanntes halbes Zimmer. An einer Längsseite stand eine Liege mit einer Patchworkdecke in blassen Farben. Ich saß auf einem Polsterstuhl, von dem es noch einen zweiten gab. Dazwischen stand ein Tischchen mit einer gemusterten Tischdecke. An der Wand über der Liege waren ein paar Regale angebracht, die auch ich aus meiner Kindheit kannte. Es waren die immer gleichen und auch im Handel immer vorrätigen, mit blassgrünem Sprelacart überzogenen Pressspanbretter, die auf schmalen Metallträgern ruhten. Eine russische Matrjoschka mit ihren vier kleineren Schwestern zierte das untere Brett.
Ich betrachtete meine Beine und Hände, als hätte ich gern die Gewissheit, dass ich es wirklich war, die hier saß. Seltsam surreal waberte der Gedanke „konspirative Wohnung“ in mir. Gleich darauf musste ich grinsen. „Konspirative Wohnung“ hörte sich nach knisternder Geheimdienstatmosphäre an, nicht nach abgewohntem Kinderzimmer.
In diesem Moment klingelte es und Frau Kloster ging zur Tür. Ich straffte mich etwas in der Erwartung des Kommenden. Kurz darauf öffnete sich die
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