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STASIRATTE

STASIRATTE

Titel: STASIRATTE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Döhring
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über die Brücke. An der Wasserseite war ein hohes Gitter angebracht, sodass man sich nicht hinunterstürzen konnte. Zu meiner Linken begrenzte Mauerwerk die alte Brücke. Vor dem Nachthimmel sah ich die beiden Stümpfe der Brückentürme düster aufragen.
    Das andere Ufer – Westberlin, Kreuzberg – kam beständig näher und der Wind über der Spree wehte kräftiger. Noch ein paar Meter und ich stand wieder vor einer hohen Metalltür. Ich öffnete sie und betrat – einfach so – Westberlin.
    Ein paar Meter weiter stand ich auf dunklem Kopfsteinpflaster, hinter mir die Spree, vor mir der U-Bahnhof Schlesisches Tor. Die Straße lag auch hier in der mitternächtlichen Stille einer abgelegenen Gegend. Ich wusste, dass ich abgeholt werden würde, und genoss den einzigartigen Moment noch ein paar Minuten ganz für mich allein.
    Da sah ich zwei Fußgänger auf mich zukommen und erkannte in ihnen Freunde meiner Eltern, die sich auf die Aufgabe stürzen wollten, mir die Stadt zu zeigen. Außerdem würde ich in den nächsten Tagen bei ihnen wohnen. Nachdem wir uns zur Begrüßung umarmt hatten, verharrten wir für einen Moment still und sahen uns an wie Tiere, die nicht im selben Lebensraum vorkommen. In mir herrschte eine Mischung aus Euphorie, Dankbarkeit und Aufbruchstimmung.
    Rita und Klaus geleiteten mich ein Stück die Straße entlang zu einer kleinen Kneipe mit bunten Lämpchen über dem Eingang. Aus dem Innern drang Licht und Musik. Fasziniert versuchte ich mir alles einzuprägen, was ich sah. Rita bemerkte es und meinte beinahe entschuldigend: „Das ist hier doch nichts weiter.“ Hatte die eine Ahnung! Für mich war jedes Detail bemerkenswert: der türkische Wirt, die künstlichen Bäumchen im Gastraum, der Spielautomat mit den blinkenden Lichtern.
    Nachdem wir unsere Raki-Gläser geleert hatten und meine Anspannung sich lockerte, erzählte ich den beiden sehr ausführlich von dem Abenteuer, eine Brücke zu überqueren.
    * * *
    Die Ära der „Grußkarten für einen Stasispitzel“ ist zu Ende.
    An ihrer Stelle kommt ein Schreiben von Gerrys Anwalt. Er beantragt, meine Klage abzuweisen. Seiner Meinung nach ist sie unschlüssig, jedenfalls aber unbegründet. Gerrys Anwalt schreibt weiter, er vermag nicht zu erkennen, warum ich ein Recht darauf haben sollte, in Ruhe gelassen zu werden.
    Amüsiert lese ich seine Formulierung, dass die mir zuteilwerdenden Grüße schließlich eine Folge meiner Spionagetätigkeit seien. Das klang nach 007, immerhin. Des Weiteren, findet er, hätte ich mich noch nicht gebührend beim Beklagten entschuldigt. In dieser Hinsicht gebe ich ihm recht, doch der Punkt scheint jetzt überschritten zu sein.
    Dann lese ich eine Passage, die mich vom 007-Format wieder zum Staubkorn der Weltgeschichte macht. Der Anwalt ist tatsächlich der Meinung, dass es Gerry genauso gut erlaubt sei, sich mit seiner Geschichte an die Presse zu wenden. Da stelle ich mir aber doch die Frage, welche Zeitung hätte denn diese höchst banale und eben nicht selten vorkommende Enttarnungsgeschichte zweier unbedeutender Kellner abgedruckt. Ich muss schmunzeln, als ich mir die Textpassage vorstelle: Kellner liest nach fünfzehn Jahren seine Stasiakte und muss feststellen, dass er unter anderem von einer Kollegin bespitzelt worden ist.
    Das ist so fesselnd wie ein Sonnenuntergang am Wolkenhimmel.
    Doch die Worte des Verteidigers ärgern mich mehr, als dass sie mich belustigen. In seinen abschließenden Worten lese ich die Feststellung, dass ich keinen Anspruch auf einen Rechtsschutz habe.
    „Hier, sieh mal“, ich gebe Mike das Schreiben. „Soll ich jetzt unbekannt verziehen, damit ich keine Post mehr bekomme?“, fragte ich ihn schlecht gelaunt.
    Wie immer gelassen, liest er die Klageerwiderung noch einmal, legt das Papier auf den Tisch und sagt: „Das war’s ja noch nicht. Jetzt nehmen wir wieder Stellung. Wir werden jetzt fragen, was Gerry mit seiner Verteidigungsbereitschaft erreichen will. Ganz sicher ist er seiner Sache ohnehin nicht mehr, sonst hätte er weiterhin Karten geschrieben. Aber er hat die Sendungen seit Zustellung der Klage erst mal gestoppt.“
    Also bekam das Hohe Gericht wieder Post von uns.
    * * *
    „Es gibt noch mehr zu sehen als eine Kreuzberger Kneipe“, Klaus drängte zum Aufbruch. Wir gingen zum Auto und die nächtliche Fahrt durch die so nahe, ferne Stadt, die ich von Ansichtskarten und aus dem Westfernsehen kannte, in der so viele Geschichten meiner Eltern und Großeltern gespielt

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