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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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denen es äußerst förmlich zugeht und kein von Herzen kommendes Wort gesprochen wird. Er ist Richter am Obersten Gericht und schätzt diesen Posten hauptsächlich wegen des Ansehens, das damit verbunden ist. Manchmal, spätnachts, liest Iwan Iljitsch ein Buch, das gerade »Stadtgespräch« ist, und Rezensionen entnimmt er, was davon zu halten sei. Tolstoi bringt das Leben des Richters folgendermaßen auf den Begriff: »Die Freuden des Dienstes waren Freuden des Ehrgeizes, die Freuden der Gesellschaft waren Freuden der Eitelkeit; Iwan Iljitschs wahre Freuden waren aber die Freuden einer Partie Whist.«
    Im Alter von fünfundvierzig Jahren beginnt ihn ein Schmerz in der Seite zu plagen, der sich allmählich auf den ganzen Körper ausbreitet. Vergeblich suchen die Arzte nach der Ursache. Sie schwadronieren nebulös von Wanderniere und bedenklichem Natriumhaushalt und verschreiben ihm immer kostspieligere und nutzlosere Arzneien. Vor Erschöpfung ist er bald außerstande zu arbeiten, seine Eingeweide brennen wie Feuer, er verliert die Lust am Essen und, weit bedeutsamer, am Whistspiel. Langsam dämmert ihm und seiner Umgebung, dass seine Tage gezählt sind.
    Den Kollegen bei Gericht kommt das nicht ungelegen. Fjodor Wassiljewitschs Aussichten auf eine Beförderung stiegen, er hätte dann 800 Rubel mehr und erhielte eine administrative Zulage. Ein anderer Kollege, Pjotr Iwanowitsch, hegt die Hoffnung, nach Iwan Iljitschs Tod die Versetzung seines Schwagers aus Kaluga zu bewerkstelligen, was seiner Gattin gefallen und dem Ehefrieden dienlich sein wird. Iwans Familie trifft es etwas härter. Seine Frau, ohne den bevorstehenden Verlust als nachgerade schmerzlich zu empfinden, macht sich Sorgen um die Höhe der zu erwartenden Pension, während Iwans Tochter fürchtet, dass das Begräbnis des Vaters ihre Hochzeitspläne durchkreuzen werde.
    Iwan, den Tod vor Augen, erkennt hingegen, dass er seine Zeit auf Erden vergeudet hat, dass er ein nach außen hin respektables, innerlich aber leeres Leben gelebt hat. Er lässt Kindheit, Werdegang und Karriere Revue passieren und stellt fest, dass er stets vor anderen Eindruck hat machen wollen, dass er seine wirklichen Interessen und Begabungen geopfert hat, um Menschen zu imponieren, denen er, wie er jetzt erleben muss, vollkommen gleichgültig ist. Eines Nachts, von Schmerzen gequält, kommt ihm der Gedanke, »dass die von ihm kaum bemerkten Neigungen, sich gegen das zu wehren, was von den Hochgestellten des Lebens für gut gehalten wurde, jene kaum merkbaren Neigungen, die er stets sofort unterdrückt hatte, wirklich berechtigt waren und dass alles andere nichts war: Sein Dienst, seine Lebensgestaltung, seine Familie, die Interessen der Gesellschaft und des Dienstes - alles das war vielleicht nichts, nichts.«
    Das Gefühl, sein kurzes Leben weggeworfen zu haben, gipfelt in der Erkenntnis, dass seine Mitmenschen nur seinen Status geliebt haben, nicht aber sein wahres Ich. Geschätzt wurde er zwar als Richter, als wohlhabender Vater und Haushaltsvorstand, dieser Vorzüge jedoch bald schon verlustig, den Tod vor Augen und von Angst erfüllt, kann er nicht mehr auf Zuneigung rechnen. Nichts war so bitter für Iwan Iljitsch, »als dass niemand ihn so bemitleidete, wie er bemitleidet werden wollte. Iwan Iljitsch hatte zuweilen nach langen Leidensstunden Sehnsucht danach — und er schämte sich nicht, sich das zu gestehen -, dass jemand Mitleid mit ihm habe wie mit einem kranken Kinde. Er sehnte sich danach, dass man ihn liebkose, ihn küsse, über ihn weine, wie man Kinder liebkost und tröstet. Er wusste, dass er ein würdiges Mitglied des Gerichtshofs war und einen grauen Bart hatte und darum alles das unmöglich war, aber er wollte es trotzdem.«
    Als Iwan seinen letzter Seufzer getan hat, kommen seine so genannten Freunde zum Kondolieren, doch sie bedauern lediglich, dass Iwans Tod eine Lücke in ihre Whist-Runde reißt. Beim Anblick des wachsbleichen, eingefallenen Gesichts des im Sarg Aufgebahrten sinnt sein Kollege Pjotr Iwanowitsch darüber nach, dass der Tod auch ihn eines Tages ereilen könne - und welch bedenkenswertes Licht das vor allem auf seine Gewohnheit werfe, sein Bestes dem Kartenspiel zu geben. »Er kann jede Minute auch für mich eintreten«, dachte er, und ihm war für einen Augenblick wirklich bange. Doch plötzlich, er wusste selber nicht wie, kam ihm der übliche Gedanke zu Hilfe, dass sich das eben mit Iwan Iljitsch zugetragen hatte und nicht mit ihm und dass

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