StatusAngst
die Geschichte des Frauenbilds, wie es Männer über Jahrhunderte hinweg hegten. Was sie fand, war eine Flut von Vorurteilen und Halbwahrheiten aus dem berufenen Munde von Klerikern, Wissenschaftlern und Philosophen. Frauen, so hieß es, seien von Gott dazu ausersehen, sich dem Manne unterzuordnen, sie seien nicht dazu gemacht, zu regieren oder Geschäfte zu führen, sie seien zu schwach für den Arztberuf, während der Mensis könne man ihnen keine Maschinen anvertrauen und in Gerichtsprozessen von ihnen keine Unparteilichkeit erwarten. Virginia Woolf begriff, dass all diese Diskriminierungen einen materiellen Hintergrund hatten: Frauen waren unfrei, auch im Geiste, weil sie nicht über ein eigenes Einkommen verfügten. Frauen waren immer arm, nicht nur seit zweihundert Jahren, sondern seit Anbeginn der Zeiten. Frauen besaßen weniger geistige Freiheit als die Söhne der athenischen Sklaven.
Woolfs Essay gipfelt in einer dezidiert politischen Forderung: Frauen brauchten nicht nur Würde, sondern auch das gleiche Recht auf Bildung, ein Einkommen von »fünfhundert Pfund pro Jahr« und ein »eigenes Zimmer«.
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Der ideologischen Komponente des modernen Statusideals fehlt vielleicht die Schärfe, mit der im 19.Jahrhundert um Rasse und Geschlecht gestritten wurde. Heute werden diese Dinge mit einem Lächeln abgehandelt, an unverfänglicher Stelle, inmitten der bunten Vielfalt dessen, was wir lesen und hören. Doch sind die Vorstellungen von einem richtig gelebten Leben nicht minder parteiisch und keineswegs immer vorurteilsfrei, und sie verdienen eine gründlichere Prüfung, als sie sich angelegen sein lassen.
Wir sind gegen die unterschwelligen Botschaften der allgegenwärtigen Behauptungen und Bilder in unserer Gesellschaft nicht so immun, wie wir gerne glauben.
Es hieße zum Beispiel den Einfluss einer Sonntagszeitung gründlich unterschätzen, wollten wir glauben, wir könnten nach ihrer Lektüre mit denselben Prioritäten und Wünschen weiterleben wie zuvor — ganz so, als hätten wir nicht die Zeitung gelesen, sondern Die Kultur der Renaissance in Italien von Jacob Burckhardt oder den Brief des Paulus an die Galater. (Max Weber bemerkte einmal, das Ritual der Sonntagszeitung habe den Kirchgang ersetzt.)
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In erster Linie ist die politische Sicht der Dinge bemüht, Ideologie zu durchschauen, sie unnatürlich zu machen und analytisch zu entkräften, damit wir, statt uns von ihr blenden und bedrücken zu lassen, ein klares Bild von ihrer Entstehung und ihren Auswirkungen gewinnen.
Wenn wir das gegenwärtige Ideal eines hohen Status näher betrachten, kann es uns kaum noch gottgegeben oder natürlich erscheinen. Es stellt sich als Resultat einer Entwicklung dar, die mit der industriellen Revolution und den politischen Umwälzungen im England des späten 18.Jahrhunderts begann und sich über ganz Europa und Nordamerika ausbreitete. Das begeisterte Bekenntnis zu Materialismus, Unternehmertum und meritokratischen Prinzipien, welches uns aus allen Medien entgegentönt (»Die herrschenden Ideen einer jeden Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse«), spiegelt die Interessen derer wider, die Steuerleute eines Systems sind, von dem sich die Mehrheit der Menschen Lohn und Brot erhofft.
Ein analytisches Verständnis beseitigt nicht automatisch jedes Unbehagen, das uns das Statusdenken bereiten könnte. Die Analyse verhält sich zum politischen Geschehen etwa so wie ein Wettersatellit zu den Turbulenzen des Klimas. Sie kann die Probleme nicht verhindern, aber zumindest einiges zu besseren Lösungsansätzen beitragen und somit Gefühle der Ohnmacht und Ratlosigkeit deutlich verringern. Kühn gedacht, könnte sie der erste Schritt zum Versuch sein, an den herrschenden Idealen zu rütteln oder für eine Welt einzutreten, in der Respekt und Verehrung nicht ganz so selbstverständlich denen vorbehalten wird, die immer noch auf Stelzen gehen.
IV. Christentum
Der Tod
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Der Held der Tolstoi-Novelle Der Tod des Iwan Iljitsch (1886) ist seit langem seiner Frau entfremdet, seine Kinder sind ihm ein Rätsel, und er hat nur solche Freunde, die seiner Karriere dienlich sind und in deren Glanz er sich sonnen kann. Iwan Iljitsch ist ganz vom Gedanken an seinen Status beherrscht. Er bewohnt eine große Wohnung in St. Petersburg, die ganz auf der Höhe des Geschmacks eingerichtet ist, und dort gibt er häufig Abendgesellschaften, bei
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