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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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sind.
     
2
     
    Im Verlauf der Geschichte wurden Unterschiede schon häufig als naturgegeben gedacht:
     
    »Natur«- Vorstellungen, 1857—1911
     
    »Tatsache bleibt, dass der Mann zu Anbeginn bestimmt wurde, über das Weib zu herrschen: Das ist ein immer währendes Gesetz, und wir haben weder das Recht noch die Macht, es zu ändern.« Earl Percy (1873)
     
    »Die Unterschiede zwischen dem gebildeten Europäer und der europäischen Frau sind bedeutender als die zwischen einem Europäer und dem Neger der wilden Stämme Zentralafrikas, körperlich wie moralisch.« Lord Cromer (1911)
     
    »Die Mehrheit der Frauen wird (zu ihrem Glück) wenig von geschlechtlichen Bedürfnissen gleich welcher Art behelligt.« Sir William Acton (1857)
     
    »Als Rasse sind Afrikaner Weißen unterlegen; Unterordnung unter den weißen Mann ist dem Afrikaner bestimmt.
     
    Daher beruht unser System, welches den Afrikaner als unterlegen betrachtet, auf einem unumstößlichen Naturgesetz.« Alexander Stephens (1861)
     
3
     
    Politisches Bewusstsein erwächst gewissermaßen aus der Erkenntnis, dass Ansichten, die von den Meinungsführern der Gesellschaft wie ewige Wahrheiten gehandelt werden, durchaus relativ und einer Überprüfung zugänglich sind. Sie können im Brustton der Überzeugung vorgetragen werden, sie können zum Lebensgefüge so unabdingbar zu gehören scheinen wie Bäume und Himmel, und doch werden sie, aus politischer Perspektive betrachtet, von konkreten Menschen verbreitet, denen es um handfeste wie ideelle Interessen zu tun ist.
    Wenn das Wissen um ihre Relativität flüchtig bleibt, dann deshalb, weil die herrschenden Ansichten sich mit großem Aufwand als so fix wie die Bahn der Erde um die Sonne ausgeben. Sie nehmen Evidenz für sich in Anspruch. Marx hat dafür den nützlichen Terminus Ideologie verwendet. Eine ideologische Behauptung verfolgt ein bestimmtes Partialinteresse, indem sie sich als objektive Feststellung maskiert.
    Marx machte vor allem die herrschenden Klassen für die Verbreitung ideologischen Gedankenguts verantwortlich und konnte damit erklären, warum in einer Gesellschaft, in der die Klasse der Großgrundbesitzer die größte Macht ausübt, die Vorstellung eines mit solchem Besitz einhergehenden Adels von der Mehrheit der Bevölkerung als gegeben hingenommen wird (selbst von denen, die dabei das Nachsehen haben), während in der Merkantilgesellschaft der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmers als allgemeine Zielgröße galt. Mit den Worten von Marx: »Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.«
    Solche Ideen würden indes schwerlich die Herrschaft erlangen, verrieten sie ihren Anspruch zu deutlich. Das Wesen ideologischer Behauptungen liegt darin, dass wir sie ohne geschärften politischen Sinn nicht entlarven können. Wie ein farbloses, geruchloses Gas durchdringt die Ideologie die Gesellschaft, schlägt sich in Presse, Werbung, Fernsehen und Lehrbüchern nieder. Dort verflüchtigt sich der parteiische, gar unlogische oder ungerechte Charakter ihrer Weltsicht, dort bleibt der harmlose Ruch altbekannter Wahrheiten, mit denen nur Dummköpfe oder Wahnsinnige hadern können.
     

 
4
     
    Doch der keimende politische Verstand bricht mit Etikette und Gewohnheit, er schämt sich nicht dafür, dass er Gegenposition bezieht, und fragt mit der Unschuld eines Kindes, der Hartnäckigkeit eines Strafverteidigers: »Muss das sein?«
    Bedrängnis und Not, einst als Zeichen einer auf alle Zeit uns von der Natur diktierten Lage aufgefasst, mögen, wenn wir sie anders politisch lesen, auf konkrete, möglicherweise wandelbare soziale Strukturen zurückgeführt werden. Aus Scham und Schuldgefühlen werden Verständnis und das Streben nach einer gerechteren Verteilung von Status.
     
5
     
    George Bernard Shaw, Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus (1928):
    »Sie müssen sich vom Kinderglauben befreien, dass die Einrichtungen, unter denen wir leben, naturgegeben sind wie das Wetter. Das sind sie nicht. Weil sie in unserer kleinen Welt allgegenwärtig sind, glauben wir, dass sie schon immer da waren und immer bleiben werden. Das ist ein gefährlicher Irrtum. In Wirklichkeit sind sie vergängliche Konstrukte. Veränderungen, die niemand für möglich hielt, vollziehen sich in wenigen Generationen. Kinder glauben heutzutage, neun Jahre zur Schule zu gehen, Alters- und Witwenrente zu beziehen, Frauen und kurzberockte Damen ins Parlament zu

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