StatusAngst
sich das mit ihm nicht zutragen dürfe und könne, dass er sich mit solchen Gedanken nur in eine düstere Stimmung versetze, was er durchaus nicht tun dürfe.«
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Der Tod des Iwan Iljitsch veranschaulicht ganz im Geiste christlicher Fürbitten für Lebende und Tote, wie der Gedanke an den Tod eine Umkehr bewirken kann: von der weltlichen zur spirituellen Orientierung, von Whistpartien und Soupers zu Wahrheit und Liebe.
Wenn Tolstoi um die Macht des Todes als Gewissensprüfer wusste, dann deshalb, weil er sich wenige Jahre vor der Niederschrift der Novelle in einer ähnlichen Situation befunden hatte. Er war sich seiner Sterblichkeit bewusst geworden und hatte sein bisheriges Leben auf den Prüfstand gestellt. In der vom Tod inspirierten Selbstbefragung Die Beichte (1882) erklärt er, er habe im Alter von einundfünfzig Jahren, als weltberühmter und reich gewordener Autor von Krieg und Frieden und Anna Karenina, erkannt, dass er sich von früh auf nicht an den eigenen Werten oder an Gottes Geboten, sondern an den Maßstäben der »Gesellschaft« orientiert habe und dass dies in ihm den ruhelosen Drang erzeugt habe, stärker, berühmter und reicher als andere zu sein. In seinen Kreisen waren »Ehrgeiz, Machtverliebtheit, Gier, Lüsternheit, Hochmut, Zorn und Rachsucht durchaus anerkannt«. Doch im Angesicht des Todes kam ihm die Fragwürdigkeit dieser Haltung zu Bewusstsein. »›Gut, du besitzt also sechstausend Dessjatinen Land im Gebiet von Samara und dreihundert Pferde, und dann? ... Gut, schön: du wirst also berühmter als Gogol, Puschkin, Shakespeare oder Molière oder alle Schriftsteller der Welt — und was hast du davon?‹ Ich wusste darauf keine Antwort.«
Die Antwort auf alle diese Fragen gab ihm schließlich Gott. Tolstoi beschloss, für den Rest seiner Tage streng nach der Lehre Christi zu leben. Was immer wir nun von Tolstois prononciert christlicher Antwort auf eine Sinnkrise halten mögen, so erscheint doch der Krisenverlauf sehr vertraut.
Sein Weg ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Gedanke an den Tod zu einem wahrhaftigeren, sinnerfüllteren Dasein führen kann - entsprechend der feierlichen Aufforderung Bachs in seiner Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, das Wesentliche nicht aus dem Blick zu verlieren:
Bestelle dein Haus,
Denn du wirst sterben,
Und nicht lebendig bleiben.
Es ist der alte Bund:
Mensch, du mußt sterben.
Ja, komm, Herr Jesus.
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Wie aber soll uns eine lebensgefährliche Krankheit helfen, die übertriebene Sorge um unseren Status zu überwinden?
Grundsätzlich dadurch, dass sie uns vieler Mittel beraubt, unseren Status zu pflegen, zum Beispiel der Möglichkeit, zu Soupers zu laden, effizient zu arbeiten, uns als Gönner zu betätigen. Die Nähe des Todes offenbart uns somit die Fragilität oder gar Wertlosigkeit des Respekts, den wir aufgrund unseres Status zu gewinnen hoffen. Bei guter Gesundheit und auf der Höhe unserer Kräfte ersparen wir uns die Frage, ob die Komplimente, die man uns macht, auf Berechnung oder auf ehrlicher Zuneigung beruhen. Selten bringen wir den Mut oder den Zynismus auf, zu fragen: »Bin ich damit gemeint oder nur meine gesellschaftliche Stellung?« Doch indem Krankheit die Voraussetzungen gesellschaftlicher Zuwendung untergräbt, schafft sie schnell und grausam Klarheit. Im Krankenhauskittel, den Tod vor Augen, richten wir unsere Wut auf diejenigen, die uns nur wegen unseres Status liebten, aber auch auf uns selbst, weil wir so eitel waren, ihren herzlosen Einflüsterungen auf den Leim zu gehen. Der Gedanke an den Tod bringt Ehrlichkeit in unsere gesellschaftlichen Beziehungen. Wollen wir unseren Terminkalender abspecken, brauchen wir uns nur die Frage zu stellen, wer von diesen vielen Bekannten bereit wäre, uns am Krankenbett zu besuchen.
Hat sich das Festhalten an falschen Freunden erst einmal als überflüssig erwiesen, fallen auch viele Dinge fort, die dem Erhalt dieser Freundschaften dienten. Wenn die Liebe, die wir mit unserem Reichtum und unserer Macht erkaufen, nur so lange hält wie unser Status und wir am Ende wehrlos und verwüstet daliegen und wie kleine Kinder auf Trost hoffen, haben wir gute Gründe, unsere Kräfte auf die Beziehungen zu konzentrieren, die dem Verfall unseres Status am ehesten standhalten werden.
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Herodot berichtete aus Ägypten, dass auf dem Höhepunkt festlicher Bankette, wenn die Stimmung der Tafelnden am ausgelassensten war, Diener Bahren mit Totengerippen an
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