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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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wählen sei immer ein Teil der natürlichen Ordnung gewesen und werde es immer bleiben; aber ihre Urgroßmütter hätten jeden, der ihnen solche Dinge verkündete, für verrückt erklärt - und jeden, der sie herbeiwünschte, für gottlos.«
     

 
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    Wer allerdings im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den Gesellschaften des Westens einen deutlichen Statuswandel erreichte, waren die Frauen — dass und wie sie so zahlreich zu einer kritischen Haltung gelangten, bietet einigen Aufschluss über die Entstehung politischen Bewusstseins.
    Virginia Woolf beschreibt am Anfang von Ein eigenes Zimmer (1929), dass sie bei einem Aufenthalt in Cambridge beschloss, die Bibliothek des Trinity College aufzusuchen und einige Manuskripte einzusehen - Lycidas von Milton und Henry Esmond von Thackeray. An der Tür erschien sofort »ein abwehrender, silbriger, freundlicher Herr«, hinderte sie am Weitergehen und »bedauerte mit leiser Stimme, dass Damen nur Zutritt zu der Bibliothek haben, wenn sie von einem Fellow des College begleitet werden oder ein Empfehlungsschreiben vorweisen«. Traurige Randnotiz der Autorin zu einer der Grundlagen der Benachteiligung von Frauen, nämlich der Verweigerung gleichberechtigten Zugangs zur höheren Bildung.
    Viele Frauen hätten sich verletzt gefühlt, aber nur wenige wohl hätten auf den Affront politisch geantwortet, statt sich selbst, der Natur oder Gott die Schuld an dieser Demütigung zu geben. Schließlich hatte es das gleiche Recht auf Bildung für Frauen noch nie gegeben. Und hatten nicht viele angesehene Arzte und auch gewisse Politiker im Parlament versichert, die Minderwertigkeit der Frau sei biologisch begründet, da ihr Schädel kleiner sei? Welches Recht hatte also eine Frau, die Motive des freundlichen Bibliothekars in Frage zu stellen, zumal er ihr so freundlich und sogar mit einer Entschuldigung entgegengetreten war?
    So leicht ließ sich aber Virginia Woolf nicht einschüchtern. Statt sich zu fragen: Was habe ich falsch gemacht?, vollzog sie den wesentlichen Schritt zu politischer Analyse, indem sie die Frage umdrehte: Was machen die Bibliothekare falsch, dass sie mir den Zutritt zur Bibliothek verwehren?« Wenn die herrschenden Vorstellungen und Verhältnisse als »naturgegeben« gelten, kann niemand für das Leid verantwortlich gemacht werden, das sie verursachen, oder die Betroffenen müssen die Schuld bei sich selbst suchen. Eine politische Betrachtung hingegen gestattet immerhin die Annahme, der Fehler könne im Leitbild liegen, nicht bei uns. Statt uns mit der Frage zu quälen: Was habe ich falsch gemacht (dass ich eine Frau/dunkelhäutig/arm bin)?, werden wir von der politischen Sicht ermutigt zu fragen: Was könnte bei den anderen im Argen liegen, dass sie mich so schlecht behandeln? Natürlich darf man sich nicht zum unschuldigen Opfer stilisieren wie diejenigen, die in politischen Radikalismus verfallen, um sich eine selbstkritische Auseinandersetzung zu ersparen. Vielmehr muss man aus der Erkenntnis handeln, dass bestehende Einrichtungen, Gesetze und Vorstellungen größerer Dummheit und Parteilichkeit unterliegen, als eine naturalistische Perspektive uns glauben machen will.
    Auf dem Rückweg in ihr Hotel überwand Virginia Woolf daher das Gefühl der persönlichen Kränkung und begann, über die Lage der Frauen insgesamt nachzudenken: Sie sann darüber nach, welche Wirkung die Armut auf den Geist hat und welche Wirkung der Reichtum auf den Geist hat, und dachte, wie unangenehm es sei, ausgesperrt zu sein; sie dachte an die Sicherheit und den Wohlstand des einen Geschlechts und an die Armut und die Unsicherheit des anderen. Beim Nachdenken kamen ihr Zweifel am weiblichen Rollenmodell, mit dem sie aufgewachsen war: Eine Frau hatte immer äußerst liebreizend und absolut selbstlos zu sein, eine Meisterin in den schwierigen Künsten des Familienlebens. Sie opferte sich täglich aufs neue. Gab es Huhn, würde sie sich mit der Keule begnügen, war es zugig, würde sie sich in den Luftzug setzen — kurz, sie war so beschaffen, dass sie nie einen eigenen Willen oder Wunsch hatte, sondern sich lieber dem Willen und den Wünschen der anderen anschloss.
    Wieder in London, setzte sie ihre Selbstbefragung fort: Warum tranken Männer Wein und Frauen Wasser? Warum war das eine Geschlecht so wohlhabend und das andere so arm? Um das Persönliche und Zufällige an diesen Eindrücken abzustreifen, studierte sie in der British Library (zu der Frauen seit zwanzigjahren Zutritt hatten)

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