Staub zu Staub
Eins weiß ich: Mein Vater hat sich geirrt. Jonathan ist kein Sohn Gottes.“
Mirjam streckte ihre Hände gen Himmel. „Endlich! Wie oft habe ich das inzwischen gesagt?“
„Er ist ein Engel.“
Kristin stutzte. „Moment, und was ist mit dieser Jesus-Schiene? Mit der Welt, die er vernichten wird?“
Daniel hob eine Schulter. „Ich steige da auch nicht durch. Aber ich habe seine Flügel gesehen, rauchig, wie Schatten.“ Er holte seine Brille aus der Jacke. Ein Bügel war in der Mitte abgebrochen. „Kaputt. Kann man das irgendwie wieder zusammen kriegen?“
Kristin nahm ihm das Gestell ab. „Ich dachte, Engel wären friedliche Wesen mit Harfen und Heiligenscheinen. Die keine Massaker veranstalten.“ Sie inspizierte die Bruchstelle. „Mit Heftpflaster sollte es gehen.“
Mirjams Finger trommelten auf der Kommode. Endlich ergab alles ein Quäntchen Sinn. „Ich weiß, welcher Engel er ist“, stieß sie hervor, „Metatron. Nach einigen Überlieferungen ist er zu RaMChaL herabgestiegen, um ihm Geheimnisse des Universums zu enthüllen.“
Kristin lehnte ihren Kopf an die Sesselstütze, womit sie ihre Wange in Daniels Handfläche bettete. „So langsam komme ich mit seinen Vornamen durcheinander.“
„Es ist kein Name, eher eine Amtsbezeichnung. Das Wort kommt aus dem Griechischen meta thronou – nach dem Thron, also jemand, der dem Thron des Ewigen am nächsten steht. Ich kenne mich da nicht so sehr aus. Einige glauben, er wäre Henoch, der vom Ewigen für sein rechtschaffenes Leben in den Status eines Engels erhoben wurde. Nach dem Sefer haz-Zohar, dem Buch des Glanzes, hat Metatron geholfen, mein Volk aus Ägypten durch die Wüste zu führen.“
„Also ist er ein Netter. Das ist schon mal was. Was sollten wir noch über ihn wissen?“
Daniel kaute an seiner Unterlippe. „Wenn er wirklich Metatron sein soll, dann ist er der mächtigste aller Seraphim.“
Kristin runzelte die Stirn. „Was zum Teufel sind Seraphim?“
„Angeblich kommt der Name von einer Schlange, die in der Wüste lebt, deren Biss so …“
„Es kommt vom hebräischen ‚saraph’“, unterbrach Mirjam, „und heißt so viel wie jemand, der etwas in Brand steckt.“ Auf einmal spürte sie den schuppigen Rücken des Drachen zwischen ihren Beinen und die Flammen, die aus den Ritzen der Erde emporloderten und ihr zusammen mit der Hitze ‚Hure! Hure!’ ins Gesicht schleuderten.
Er ist gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen!,
flüsterte Preschke hinter ihr. Mirjam fuhr herum, doch die Stimme wanderte weiter und wisperte ihr ins Ohr:
Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen
. Hatte Preschke Recht gehabt? Aber wenn Max diesmal herabgestiegen war, um das Ende heraufzubeschwören, wollte Friedmann dann mit seiner Sekte die Menschheit retten? Ein edles Ziel für einen fürchterlichen Preis.
Haltet auch ihr euch bereit
, mahnte Preschke und zu ihm gesellte sich das Krächzen des Toten aus der Gasse:
Genauso wird er alle vernichten. Alle. Ich sehe ihn … auf die Toten zu seinen Füßen herabblicken … er ist der …
Mirjam fiel auf die Knie und ballte die Hände. „Geht fort! Verschwindet!“, kreischte sie. „Lasst mich in Ruhe!“
Daniel schrak zusammen. „Bitte?“
Mirjam sackte auf ihre Fersen. „Nichts. Was hast du gerade erzählt?“ Ihre Kraft strömte aus ihr, das Teppichmuster verschwamm vor ihren Augen. Sie kroch zum Bett, tastete nach der Schokolade und lutschte daran.
Daniel zögerte. „Ja, was ich sagen wollte: Im ersten Semester besuchte ich ein Seminar. Metatron gilt als Behüter aller Geheimnisse des Universums und Wächter über die Menschen. Jede unserer Taten schreibt er in das Buch des Lebens, um es beim göttlichen Gericht vorzuweisen.“
„Petze“, kicherte Kristin, womit sie Daniel zum Lächeln brachte. „Du studierst Theologie?“
„Immer noch im ersten Semester, kann also nicht viel sagen. Aber als ich klein war, hat mein Vater mir über Engel erzählt. Sie wurden erschaffen, um die Botschaften des Herrn zu den Menschen zu bringen. Sie sind seine Sklaven.“
„Hä? Max hat keinen Freien Willen?“
„Ich nehme an, solange nichts anderes kommt, ist er sehr wohl in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Mein Vater meinte, weil die Menschen göttlich sind, müssen Engel sich einem starken Willen eines Menschen beugen. Aber einem wirklich sehr starken, was alles andere unterjocht.“
„Aha.“ Kristin schob sich von Daniel zurück. „Dann warst du es, der sich das Massaker gewünscht
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