Staub zu Staub
erwachen.“
Der Drache. Er bäumte sich auf, streckte seine Köpfe gen Himmel und grölte die schwarzen Wolken an. Mirjam verscheuchte das Bild und ließ sich zum näch-sten Haus führen. In einem der Fenster tauchte die Silhouette einer Frau auf. Eine Haube bedeckte ihren Kopf, ein weiter, runder Kragen hatte sich um ihren Hals gelegt und war über ihrer Schulter ausgebreitet. Die Frau verschwand wieder.
Mirjam betrachtete die Fassade des Gebäudes: Ein vierstöckiges Haus mit einem spitzen Dach. Auf einem Eisenschild neben der Tür erkannte sie die Abbildung eines Vogels, vielleicht einer Ente.
Max führte sie weiter an den Häusern entlang. Die Straße machte eine Kurve. Das schwarzweiße Bild verschlechterte sich und begann zu zittern. Mirjam musste sich konzentrieren, um die Umgebung noch deutlich sehen zu können, und entdeckte auf der anderen Straßenseite einen Mann. Seine Bewegungen wirkten ruckartig wie in einem schlechten Daumenkino. Mirjam sah nur seine schemenhafte Gestalt, erkannte aber die altertümliche Kleidung. Er trug einen großen Hut, sein weiter Mantel ähnlich einem Umhang reichte ihm bis zu den Knien und ließ seinen Oberkörper dick erscheinen. Die ausgeleierten Lederschuhe bekleideten seine Füße bis zu den Knöcheln. Er trug Strümpfe, die Oberschenkel waren in aufgeplusterte Hosen gehüllt.
Der Mann bewegte sich an Mirjam vorbei auf ein Haus zu.
„Er sieht uns nicht?“
„Nein.“ Max folgte dem Mann. „Er kann uns nicht wahrnehmen. Schau dir das Schild da an.“
Mirjam bemühte sich, die Abbildung zu entziffern. Es schien eine Karaffe zu sein. War ‚Weiße Kanne’ ein Hausname?
Währenddessen öffnete sich die Tür und auf der Schwelle erschien ein anderer Mann, Mitte zwanzig, genau wie sein Besucher. Er bewegte die Lippen, doch Mirjam hörte keinen Ton. Aus den Tiefen seiner Kleidung holte der Besucher ein Blatt. Ohne Max’ Hand loszulassen, trat Mirjam heran und reckte den Hals. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Schrift zu lesen.
„Haiem anni lewad? - Mie anni? Es ist der Gaon!“
Wie ein Rascheln des Windes drangen einzelne Worte des Gesprächs zu ihr, während sich die beiden unterhielten:
…
der Brief
…
…
aut hat und Rabbi
…
…
ich ve
…
Der Hausherr schien seinem Besucher zu misstrauen, doch bald wurden seine Züge weicher. Er nickte.
…
haben gewarnt. Unser Oberrabbiner Popers ließ einige seiner Schriften verbrennen. Aber der Rabbi Mosche hat mir etwas Wichtiges anvertraut. Die Thora der Lehrklause muss für immer verhüllt bleiben
…
Wieder löste sich die Stimme im Nichts auf, obwohl die beiden noch weiter sprachen. Der Hausherr nickte schließlich und die Tür wurde geschlossen. Der Gaon drehte sich um und … schritt mitten durch Mirjam hindurch.
Vor Schreck ließ sie Max’ Hand los. Nein, nicht! Sie griff nach ihm, doch die Dunkelheit riss sie fort. Und zusammen mit der Dunkelheit kam der Schmerz.
Kapitel 26
Tilse verließ seine Firma und bog aus Gewohnheit zum Parkplatz ab. Als er den vertrauten Škoda Octavia nicht auf der üblichen Stelle entdeckte, betrachtete er seinen eingegipsten Arm. Zwei Brüche, eine Oberschenkelprellung.
Er erinnerte sich, wie Jonathan ihn aus dem Fenster geschleudert hatte. Der Holunderbusch federte seinen Fall ab. Die höllischen Schmerzen in seinem Arm ließen ihn die Besinnung verlieren. Als er zu sich kam, in die Bibliothek taumelte und die verunstalteten Leichen der Mönche sah, begriff er, wie viel Glück er gehabt hatte.
Tilse schüttelte die Erinnerungen ab. Er verließ den Parkplatz und schritt in den Vorderhof. Friedmanns Opel versperrte die Einfahrt. Der alte Mann hatte sich an die Beifahrertür gelehnt und seine Arme vor der Brust verschränkt. Der Blick der grauen Augen schien Tilse auszupeitschen. „Ich habe versucht, Sie telefonisch zu erreichen, aber Sie gingen nicht ran. Da dachte ich, ich komme doch einfach mal vorbei.“
Tilse stellte seinen Aktenkoffer zwischen den Beinen ab. „Ich wollte Sie zurückrufen, aber …“
Sein Oberhaupt unterbrach ihn mit einer raschen Geste. „Aber Sie haben es bloß vergessen oder hatten so viel zu tun. Verstehe, schließlich sind nur fünf meiner Männer gestorben.“
„Wir haben Jonathan unterschätzt.“
„Wir? Sie!“, brüllte Friedmann. Auf seinen Lippen blieben Speicheltropfen haften. „Sie haben alles gefährdet! Noch mehr: Ich habe keine Meldung von Walters, und wenn wir ihn auch noch verlieren, können wir gleich aufgeben.“
Tilse
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