Staub zu Staub
wollte. Verstecken, aber bei wem?“ Daniel zog eine verschwörerische Miene. „Dazu später mehr. Nun zu unserem Gaon – etwa fünf Jahre wandert er durch Deutschland und Polen und kehrt 1745 zurück nach Vilnius. Der Brief, den wir – ähm, ich meine natürlich Max – entschlüsselt hat, ist mit 5505 datiert. Ich habe ein wenig umgerechnet, das bedeutet 1745 nach Christus.“ Daniel benetzte seinen Zeigefinger und blätterte um.
„Über die Weiße Kanne habe ich auch etwas gefunden. Es ist ein Haus in der Judengasse. Mitte des 18. Jahrhunderts gehörte es der Familie Kann, einer der einflussreichsten jüdischen Familien dieser Zeit. Und jetzt kommt’s: Von 1717 bis 1761 lebte dort ein gewisser Moses Kann. Ein aufgewecktes Kerlchen. Er war nicht nur der Hoffaktor des Landgrafen, sondern auch ein Rabbiner im Lehrhaus, er lehrte also den Talmud. In der Bibliothek habe ich da etwas von einem Historiker Markus Horovitz herausgekramt. Dieser schreibt, Moses Kann wäre ‚
der größte Gelehrte und geachtetste Mann der hiesigen Gemeinde
’. Das habe ich von den Seiten des Museums Judengasse in Frankfurt. Na, was sagt ihr?“ Daniel blickte über seine Brille und grinste. „Ich wette, er ist unser Mann.“
Max klopfte ihm auf die Schulter. „Dani, du bist Spitze. Ich würde sagen: Morgen fahren wir nach Frankfurt und schauen, was wir aus dem Nachlass von Moses Kann noch finden können.“
„Heute!“, entfuhr es Mirjam. „Wir müssen noch heute fahren.“
Sie biss sich auf die Unterlippe, als eine innere Stimme in ihr aufstieg: Heute ist Schabbes, der Tag, an dem sogar der Schöpfer selbst geruht hat. Aber vielleicht rechneten ihre Feinde gerade damit? Dann wäre alles verloren! Sie musste die Thora retten, sie vor Friedmann beschützen.
Kristin schnitt mit der Hand durch die Luft. „Weißt du, wie lange die Autofahrt nach Frankfurt dauert? Letzte Nacht hat kaum einer von uns geschlafen. Auch du musst erst mal zu Kräften kommen. Egal was Luzzatto diesem Moses hinterlassen hat, es hat fast dreihundert Jahre irgendwo herumgelegen. Ein Tag mehr macht auch keinen Unterschied.“
„Oh doch.“ Mirjam musterte Daniel. War er unter ihrem Blick ein klein wenig blasser geworden? „Wenn er seinem Vater von unseren Erkenntnissen erzählt hat, dann ist die Sekte bestimmt schon unterwegs. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Thora in ihre Finger gerät! Und ich fühle mich bestens.“ Ruckartig richtete sie sich auf, schob ihre Beine über die Bettkante und spürte Übelkeit aufsteigen. Nebel trat vor ihre Augen und sie musste blinzeln, um wieder scharf zu sehen.
„Langsam wirst du paranoid. Max, sag du es ihr!“
Max beobachtete Daniel, der seinem Blick auswich und auf den Notizblock starrte.
„Wir fahren heute“, beschloss er.
Kristin schnaufte. „Das ist so bescheuert, dass es schon preisverdächtig ist.“ Sie packte Daniel am Arm und schob ihn aus dem Zimmer wie eine Mutter ihr Kind.
Innerhalb einer Stunde hatten sie die Sachen gepackt, aus dem Hotel ausgecheckt und waren ins Auto gestiegen. Noch bevor sie Hamburg verließen, schlief Mirjam auf dem Beifahrersitz ein. Geweckt wurde sie durch das Geräusch einer zugeschlagenen Tür. Der Wagen stand auf einem Parkplatz neben einem Café mit einer leuchtenden Neonschrift. Max musste gerade eingestiegen sein. Er stellte einen Kaffeebecher in die Halterung und schüttete aus mindestens fünfzehn Tütchen Zucker in die Brühe. Mirjam gähnte. Ihr Körper fühlte sich an wie aus Holz geschnitzt.
„Wo sind wir hier?“ Sie drehte sich um. Auf der Rückbank schliefen Daniel und Kristin, eng aneinander gekuschelt.
„Bald muss das Hattenbacher Dreieck kommen. Dann ist es nicht mehr weit.“
„Wie lange sind wir schon gefahren?“
„Etwa fünfeinhalb Stunden. Kurz nach Hamburg gab es einen Stau.“ Er startete den Motor und lenkte den Wagen zur Auffahrt.
„Fünf Stunden? Und du warst die ganze Zeit am Steuer?“
Max lächelte ihr matt zu. „Ich kann das ab. Heute werden wir eh nicht viel in Frankfurt machen können. Es ist schon fast achtzehn Uhr. Wir alle sollten früh ins Bett gehen.“ Er fuhr auf die Autobahn, beschleunigte und wechselte auf die linke Spur. Nahezu geräuschlos glitt der Audi über den Asphalt.
Ein Handy klingelte. Kristin reckte sich und Handy rutschte von ihrem Schoß auf den Boden. Sie hob es auf und murmelte ein verschlafenes „Ja?“
Einen Augenblick lauschte sie dem Gespräch und reichte den Apparat dann nach
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