Staub zu Staub
über das Gesicht. Seine Finger waren kalt. „Eigentlich hätte ich dich niemals finden können. Aber irgendetwas in mir hat dich gespürt. Es ist ein Glück, dass du keine großen Schäden davon getragen hast. Du hättest den Verstand verlieren können oder für immer gelähmt sein.“
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. „Das alles will ich gar nicht wissen.“ Sie schaute zu Kristin. „Wo ist eigentlich Daniel?“
Kristin zögerte, so antwortete Max: „Er ist etwas recherchieren gegangen. Von unserem Trip gestern wissen wir, dass der Gaon mit dem Brief zu diesem Mann aus der Weißen Kanne gereist ist. Dieser Mann scheint eine Thora bei sich versteckt zu haben, die Luzzatto ihm anvertraut hat. Vielleicht ist es die Entschlüsselung, die wir suchen. Außerdem wissen wir, dass der dortige Oberrabbiner den Namen Popers trägt. Jetzt müssen wir nur herausfinden, wo das Ganze geschah und vor allem, wie der Mann aus diesem Haus heißt.“
Mirjam richtete sich auf. Max schob ihr das Kissen hinter den Rücken und sie lehnte sich zurück. Ihr Mund war ausgetrocknet. Sie beugte sich zum Nachttisch und nahm das Glas mit dem Strohhalm. Erst nach einigen Schlucken konnte sie ihre Zunge bewegen, die sich nicht mehr wie ein Stück Fleisch in ihrem Mund anfühlte.
„Ihr habt Daniel unbeaufsichtigt gelassen?“
Kristin hob die Hände. „Jetzt geht das schon wieder los. Ich bin in meinem Zimmer, falls ihr mich braucht. Hoffentlich macht ihr keine Dummheiten mehr mit irgendwelchen Dimensionen.“
Mirjam wartete, bis Kristin gegangen war. „Ich meine es ernst. Er weiß so viel von unseren Plänen und jetzt haben wir ihm auch reichlich Infos geliefert, damit er und sein Friedmann die Thora finden können. Sie ist nicht mehr sicher!“
„Er hat uns bisher sehr geholfen. Es wäre unfair, ihn wie einen Gefangenen zu behandeln.“
„Aber er gehört zu dieser Sekte!“
„Jetzt gehört er zu uns. Man muss vertrauen können. Vertrauen und verzeihen.“
Mirjam nahm noch einen Schluck durch den Strohhalm und stellte das Glas ab. „Gut.“ Sie forschte in seinen Augen. „Wenn du mir sagst, dass wir ihm vertrauen können, dann wird mir dein Wort reichen.“
„Wie könnte ich das sagen?“
„Du bist ein Engel. Kannst du nicht das Wahre im Menschen sehen?
„Die Seele ist das intimste, was ein Mensch besitzt. Ich kann nicht einfach so dort herumwühlen.“
„Aber du bist mit allem ausgestattet, um das tun zu können.“
„Ich bin auch mit allem ausgestattet, um eine Frau zu vergewaltigen. Im Prinzip wären die Folgen für den Betroffenen die Gleichen. Mirjam, es steht mir nicht zu, in jemanden gewaltsam vorzudringen.“
Der verdrängte Schrecken, den sie in der Gasse erlebt hatte, stieg in ihr hoch: Die Zunge, die ihr über das Gesicht schlabberte, der Pommes-Currywurst-Atem und die kalten Hände, die nach ihrem Busen grabschten. Sie fror und kuschelte sich in die Decke.
„Du hast Recht.“ Tränen traten in ihre Augen. „Ich hatte keine Ahnung, was ich von dir verlange. Verzeih mir.“
Er lächelte. „Du musst einfach vertrauen. Wie ich.“
Mit einem Krachen platzte Daniel in den Raum.
„Tadaaaaa!“ Er schwenkte einen Notizblock. „Ich hab’s.“ Hinter ihm erschien Kristin. Zusammen setzten sie sich auf den Boden vor dem Bett. Daniel legte seinen Arm um Kristins Schultern und lächelte Mirjam zu. „Na? Schön, dich wieder wohlauf zu sehen.“ Seine Brille saß schief, ein Stück Pflaster hielt noch immer den kaputten Bügel zusammen. Obwohl Daniel bleich wirkte und seine Lider leicht geschwollen waren, plapperte er munter weiter. „Ich war in der Bibliothek. Meine Güte, so viel habe ich nicht einmal für meine Prüfungen recherchiert. Aber nun hab ich alles, was wir brauchen. Also.“ Er schlug den Notizblock auf und kratzte sich in seinem wirren Haar. „Jakob Popers war von 1717 bis 1740 der Oberrabbiner in Frankfurt am Main. Die Anhänger der sabbatianischen und kabbalistischen Strömungen haben ihm wohl ans Bein gepisst, denn er verfolgte die, wo es nur ging. Als Luzzatto 1735 Venedig verließ, wo er für seine Ansichten ziemlich fertig gemacht wurde, machte er einen Abstecher nach Frankfurt. Die italienischen Rabbiner haben das aber dem guten Popers gepetzt, woraufhin er Luzzatto zwang, sich von den kabbalistischen Lehren zu distanzieren. Das war ihm aber nicht genug, er ließ viele von Luzzattos Werken verbrennen. Die Vermutung liegt nahe, dass RaMCHaL seine wichtigsten Schriften retten
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