Staub zu Staub
anzuglotzen.
„Kristin …“, röchelte Daniel kraftlos.
Mirjam drückte seine Schulter. „Ich hole sie.“
Im Toilettenhäuschen stank es nach Urin und Desinfektionsmitteln. Auf dem grauen Fliesenboden glänzte eine Pfütze, mehrere Schuhabdrücke zeichneten schmutzige Pfade zu den Kabinen. Grüne Papiertücher quollen aus dem Mülleimer unter der Waschbeckenplatte. Als Mirjam eintrat, nahm Kristin ruckartig das Handy vom Ohr und drückte das Gespräch weg.
„Kristin? Ist alles in Ordnung?“
„Ja.“ Sie beugte sich zu einem befleckten Spiegel. Sogar die Sommersprossen auf ihren Wangen wirkten grau. Sie bewegte die Hand vor dem Wasserhahn, schöpfte vom Strahl und spritzte sich das Nass ins Gesicht.
„Wer war dran?“
Sie verharrte über dem Waschbecken. „Mein Vater.“
„Ich dachte, du hast schon Jahre nichts mehr von ihm gehört.“
Kristin schöpfte sich wieder Wasser ins Gesicht. „Es wäre besser, du kümmerst dich um deinen eigenen Kram.“ Sie taumelte zur Tür, ohne sich abgetrocknet zu haben. Unter ihrer Schuhsohle klebte eins der grünen Papiertücher.
Daniels Anfall war bereits verebbt. Mirjam erwartete, Kristin würde sogleich zu ihm stürzen, doch sie starrte mit einem glasigen Blick durch ihn hindurch. So halfen Max und Mirjam ihm auf die Beine und setzten ihn auf die Rückbank.
Kurz vor Frankfurt staute sich der Verkehr und auch in der Stadt verstopften unzählige Autos die Straßen. Erst in der Dämmerung erreichten sie das Hotel.
Kapitel 28
Mirjam lächelte den Lichtflecken zu, die an der Decke tanzten. Mit voller Brust atmete sie ein und streckte ihre Arme aus. Sie fühlte sich leicht und unbeschwert, wie in Kindertagen, wenn sie über Wiesen den Schmetterlingen nachjagte, auf den Rücken in die Gräser fiel und Beine und Arme bewegte, als wolle sie zum blauen Himmel hinaufschwimmen.
Max schlief, sein Gesicht ihr zugewandt. Sie streichelte seine Wange. Wie konnte sie vergessen, was Glück bedeutet? Wie es riecht, wie es schmeckt, wie es sich anfühlt? Sie knabberte an seinem Ohrläppchen. „Aufwachen! Wir haben heute viel vor.“ Er schmunzelte. Mirjam fuhr mit dem Zeigefinger über seine Lachfältchen und sang leise: „Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen Sonnenschein.“
„Mh.“ Er versteckte den Kopf unter dem Kissen. „Ich tue alles, was du willst, nur bitte, bitte, bitte: Sing nicht.“
Sie lachte und riss das Kissen fort. „Ach ja? War das so falsch?“
„Falsch würde ich nicht unbedingt sagen. Es hängt davon ab, welche Töne du treffen wolltest.“
„Sie sind gemein, Herr Helmgren.“ Sie schlug mit dem Kissen auf ihn ein.
Er grinste und entriss die Daunen-Waffe ihren Händen. „Niemand hat Sie gezwungen, einen Musiker zu nehmen, Frau Belzer.“
„Wie lange war noch mal die Umtauschfrist? Ich will mich beschweren.“ Er schloss sie in die Arme. Seine Hand streichelte ihren Rücken, fuhr langsam das Rückgrat hinunter und wieder hinauf. Mirjam vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. „Obwohl … ich behalte dich trotzdem“, raunte sie und spürte seine Lippen an ihrer Schulter. „Wenigstens bist du stubenrein.“
„Und abwaschbar nicht vergessen.“ Ein Kuss folgte dem anderen. „Und knitterfrei.“
„Genau.“ Sie schmiegte sich an ihn und hatte das Gefühl, als würden warme Wellen ihren Körper wiegen. Mirjam stöhnte und gab sich den Wogen hin.
Denn das Schöne … Schöne … Schöne
…, vernahm sie ein Geflüster mehrerer Stimmen, das mit den Wellen aufstieg und langsam verebbte. …
ist nichts
…
…
als des Schrecklichen Anfang
…
…
den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so
…
…
weil es gelassen verschmäht
…
…
uns
…
…
zu zerstören
…
Die Wellen verwandelten sich in einen Sog, rissen sie in die Tiefe, ertränkten sie. Mirjam schnappte nach Luft und wich zurück. Falsch, es war falsch, was sie taten! Aber hatte sie das nicht schon länger gewusst? Nicht genug Zeichen bekommen, die sie aufhalten sollten? Ihr Wille war es, der die Grenzen durchbrochen hatte. Nun war es zu spät, um zurückzukehren. Zu spät, um ihre Reinheit zu beweinen.
Max runzelte die Stirn. „Was ist los?“
„Nichts.“ Um Atem ringend, schüttelte sie sich und rieb sich die Schläfen. „Es ist nur … Rilke.“
Er grinste. „Ich wusste nicht, dass literarische Grundsatzdiskussionen zum Vorspiel gehören, aber okay. Man lernt nie aus.“
„Die Elegie. An der Wand in deiner Wohnung. Sie verfolgt mich.“
Max bettete den
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