Staub zu Staub
stand blanke Angst.
Aus einem Impuls heraus ergriff Mirjam seine verschwitzte Hand. Schwach erwiderte er ihren Druck, während ein neuer Krampf ihm den Atem nahm. Blut und Speichel liefen ihm das Kinn herunter. Mirjam holte ein Taschentuch und tupfte ihm die Lippen ab. Währenddessen hastete Kristin ins Bad. Das Wasser rauschte. Bald kehrte sie zurück und wickelte Daniel die nassen Tücher um die Brust.
„Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen“, sagte Max. „Er hat Lungen-blutungen.“
Daniel schüttelte den Kopf. „Nein. Kein Krankenhaus. Es ist schon vorbei. Es geht mir gut … “
Der Husten würgte ihm die Worte ab. Seine Hand verkrampfte sich um Mirjams Gelenk. Im nächsten Augenblick ließ die Kraft der Finger nach und weiße Abdrücke blieben zurück. Er rang nach Luft, als zöge sich ein unsichtbarer Strick um seinen Hals zusammen. Mirjam schickte Max einen verzweifelten Blick und formte ihre Lippen zu einem stummen ‚Hilf ihm’.
„Ich kann nicht“, flüsterte er zurück.
Kristin fegte den Radiowecker vom Nachttisch. „Verdammt, muss ich vor dir auf die Knie fallen und dich anbeten? Ist das eure Masche, um Leute zum Beten zu zwingen, ja? Deine Aufgabe war, alle Menschen zum Dienen deines Gottes zu bewegen, da fängst du wohl mit mir an, was?“
Er zuckte zusammen wie unter einem Schlag. „Weißt du noch, was im Kloster vorgefallen ist?“ Seine Stimme klang brüchig. „Erinnerst du dich vielleicht, dass ich Mirjam fast umgebracht habe? Ich bringe Verderben.“
„Aber früher …“
„Früher wurde das nicht von meinem Willen kontrolliert!“
Kristin wischte sich unter der Nase, während Tränen über ihre bleichen Wangen liefen. „Wirst du ihn also sterben lassen?“
Daniel lächelte schwach, sein Husten hatte sich gelegt. „Ich sterbe ja noch nicht, also hört auf zu streiten, sonst beschwere ich mich wegen Kopfschmerzen. Ihr müsst diese Thora finden. Das ist wichtiger.“
Kristin ließ sich vor seinem Bett nieder. „Ich bleibe hier.“ Ihr Blick schweifte zu Max, ein finsterer und schwerer Blick, der ihm die Schuld für alles gab, als wäre er die Quelle allen Bösen. „Du und Mirjam, ihr sollt dieses Ding finden. Dann wird alles wieder gut.“ Sie lehnte ihren Kopf an Daniel. „Alles wird gut.“
Eine Stunde später stiegen Mirjam und Max in den Wagen. Das Navigations-system lotste sie durch die Stadt zur Kurt-Schumacher-Straße, wo das Museum ‚Judengasse’ stand. Zwar hegte Mirjam wenig Hoffnung, dort etwas Nützliches zu erfahren, aber es war immerhin ein Anfang.
Während der Fahrt fing sie ein Gespräch an, doch Max antwortete einsilbig und schien in Gedanken noch bei Daniel zu sein. So betrachtete sie die Häuser, an denen sie vorbeifuhren. An einer Ampel sah sie ein Pärchen, das eng umschlungen über die Straße schlenderte. Mirjam unterdrückte ein Seufzen. Würden sie und Max jemals so unbeschwert spazieren gehen?
Im menschenleeren Museumsfoyer steuerte Max direkt auf die Kasse zu.
„Eintritt zwei Euro, ermäßigt – ein Euro“, sagte die junge Frau hinter der Theke, ohne den Kopf zu heben.
„Eigentlich suche ich jemanden, der mir ein paar Fragen beantworten kann.“
Sie löste den Blick von ihrer Zeitschrift. Mehrere Sekunden musterte sie sein Gesicht, bis in ihren Augen etwas wie Erkennen aufblitzte und sie ihn mit einem Lächeln anstrahlte.
„Welche Fragen denn?“ Sie zupfte an ihren blonden Locken, ihre Finger glitten den Hals herunter und zwirbelten an einem Kettchen mit einem Delfin-Anhänger.
„Moses Kann. Wissen Sie etwas über ihn?“
„Aber natürlich.“ Ihre Wimpern mit dick aufgetragener Tusche klimperten. „Er wurde 1717 geboren, war wie sein Bruder der Hoffaktor des Landgrafen von Hessen-Darmstadt, später auch des Kurfürsten von Mainz. Allerdings war er im Gegensatz zu seinem Bruder nicht nur ein Kaufmann, sondern auch ein Gelehrter. Als Rabbiner lehrte er in der Klause Talmud, gründete die Samson-Wertheimer-sche-Stiftung, welche die Klause finanziell unterstützte. Nach den Kulp-Kann-schen-Wirrungen verlor die Familie ihr Vermögen und ihren Einfluss. Er starb 1761, ohne seinen Kindern etwas hinterlassen zu können“, plapperte sie wie aus einem Prospekt.
Mirjam missfiel der Blick, mit dem die Frau Max auszog. „Sind von ihm irgend-welche Schriften zurückgeblieben?“
Die Frau ließ den Delfin zwischen ihren Zeige- und Mittelfinger gleiten. „Da müssen Sie Professor Berger fragen“, sagte sie zu Max. „Er war
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