Staub zu Staub
wirkte nachdenklich, während sie zum Auto gingen.
„Meinst du, es ist die Thora, die Luzzatto gehörte?“ Mirjam hakte sich bei ihm unter. „Die den Weg zur Entschlüsselung birgt?“ Der Gedanke überwältigte sie. Das Wissen des Universums lag auf dem Frankfurter Friedhof begraben, nur wenige Meter unter der Erde, und keiner ahnte es. Ein Schlüssel zum Frieden. Ein Schlüssel zur Zerstörung. Aber vor allem: Die enthüllten Worte, die der Schöpfer den Menschen gegeben hatte. Es erfüllte sie mit Ehrfurcht, als hätte der Ewige sie gerade persönlich in sein Geheimnis eingeweiht, sie auf die gleiche Stufe mit Rabbi Mosche Chajim Luzzatto und Moses Kann gestellt. Ich werde es hüten, gelobte sie in Gedanken, und darüber wachen.
„Vielleicht ist sie das“, antwortete Max. „Ich weiß es nicht.“
„Ich hoffe, du hast nicht vor, den Friedhof zu schänden.“
„Natürlich nicht.“ In seinen Augen las sie Entschlossenheit. Er hatte eine Entscheidung gefällt, aber welche vermochte sie nicht zu erkennen.
„Max!“
„Ich werde nichts Unrechtes tun.“
„Max! Versprich es mir. Hörst du?“
Er öffnete ihr die Autotür. „Lass uns zurückfahren und schauen, wie es Daniel geht. Die beiden sind bestimmt schon gespannt, was wir erfahren konnten.“
Kapitel 29
Abends schaute Mirjam bei Kristin und Daniel vorbei. Kristin blieb die ganze Zeit schweigsam und kümmerte sich um ihren kranken Dani mit Hingabe, als versuche sie damit alles andere zu verdrängen, während sich Daniel darüber beschwerte, so bemuttert zu werden. Er fühle sich, als läge er tatsächlich im Sterben, sagte er lachend. Doch sein fahles Gesicht und die glanzlosen grauen Augen wischten jeden heiteren Funken seiner Stimme hinweg. Kristin ließ sich auf seine Scherze ein, doch wenn ihr Blick Mirjam streifte, glaubte sie in den grünen Augen einen Hilferuf zu erkennen. Aber was konnte sie schon tun?
Eine Stunde später kehrte Mirjam in ihr Zimmer zurück. Max war verschwunden. Sie wartete auf ihn bis weit nach Mitternacht und mit jeder Minute wuchs ihre Verzweiflung. Ob Friedmann … Nein, das konnte nicht sein. Hätte sie dann nicht etwas hören müssen? Und woher konnte Friedmann überhaupt wissen, wo sie sich aufhielten? Nein, nein. Unmöglich. Oder doch?
Mirjam kuschelte sich in die Decke und starrte auf die Uhr, obwohl Müdigkeit ihre Lider mit Blei füllte.
Max, wo bist du? Wo bist du … Wo bist du …
Der Drache.
Die purpurroten Schuppen glänzten wie Rubine und rasselten, wenn er sich bewegte. Die sieben Häupter fletschten die Zähne. Der Drache erhob sich auf die Hinterläufe, breitete seine ledernen Schwingen aus und ein Brüllen grollte aus den sieben Kehlen. Der Himmel verfinsterte sich. Keine Wolken verdeckten ihn, sondern schwarze Schwaden, als hätte jemand Tinte in das Blau gekippt.
Mit ganzer Wucht fiel der Drache auf die Vorderpfoten. Die Erde bebte.
Das Tier erhob sich wieder und schlug erneut ein. Tiefe Risse spreizten den Boden. Mirjam stürzte nieder, weinte und flehte das Ungeheuer an, aufzuhören. Doch er ließ keine Gnade walten und es gab kein Entkommen. Zum dritten Mal donnerten die Pranken nieder. Die Risse verwandelten sich in Schluchten, aus denen Hitze emporschlug, den Atem raubte und die Lunge verbrannte.
Mirjam krümmte sich auf dem Boden zusammen. Flehte, bitte bring es schneller zu Ende, ich kann nicht mehr! Plötzlich ergriffen raue Finger ihren Arm. Preschke. Er klammerte sich an sie, sein Oberkörper lugte aus einem Spalt. Er hing in einer Schlucht, in deren Abgrund Lava brodelte. Mirjam packte ihn an den Handgelenken, um ihn herauszuziehen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er ihr entgegen.
Er ist gekommen
, krächzte der Alte und die Silhouette des Drachen spiegelte sich in seinem Blick,
er ist gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen!
Keuchend versuchte Mirjam ihn aus der Schlucht zu zerren. Ein Schatten legte sich über sie.
Der Drache. Seine Klaue packte sie. Mirjam schrie und Preschke entglitt ihrem Griff. Das Letzte, was sie sah, war sein immer kleiner werdender Körper, der in die Lava eintauchte.
Mirjam fuhr aus dem Schlaf hoch. Ein Traum? War es bloß ein Traum gewesen? Ihre Lippen fühlten sich rissig und ausgetrocknet an, die Lunge wie von den Lavadämpfen verätzt. Ihre Träume wurden immer realer, entwickelten sich zu einer eigenen Wirklichkeit.
Durch einen Spalt zwischen den Gardinen sah sie den Morgen grauen. Ihr Blick schweifte über das leere Doppelbett zur Uhr.
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