Staub zu Staub
Zehn nach Sechs.
Leise klackte die Eingangstür. Auf Zehenspitzen schlich Max zum Sessel und legte dort etwas ab.
„Max?“ Sie stemmte sich auf einen Ellbogen. „Wo warst du? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
Er küsste ihre Stirn. Ein schwacher Geruch von nasser Erde ging von ihm aus. „Schlaf ein bisschen. Es ist noch sehr früh.“ Er knöpfte sein verdrecktes Hemd auf. „Ich geh schnell duschen, dann komm ich zu dir ins Bett. Okay?“
„Das habe ich nicht gefragt.“
„Ich bin gleich bei dir. Nur schnell duschen.“ Er zog seine Kleidung aus, faltete und legte sie auf den Sessel. Bald hörte Mirjam im Bad das Wasser fließen. Sie wartete kurz, schlüpfte aus dem Bett und fegte seine Sachen vom Sessel. Sie entdeckte eine Schriftrolle, die in das dunkelblaue, goldbestickte Me’il, den Thora-mantel, gehüllt war. Ehrfürchtig nahm sie das Heiligtum, zog das Me’il ab und wickelte das Mappa-Tuch auseinander. Schwer lag die Pergamentrolle in ihren Händen.
Sie ließ sich auf dem Boden nieder und rollte die Thora ein Stück auf. Hebräische Zeichen, dicht von Hand aneinander geschrieben, füllten Kolumnen aus. An mehreren Stellen wies das Papier Einrisse auf, Brandspuren hafteten auf der Oberfläche, die Ränder waren verwittert.
Die Heilige Schrift. Die Gabe des Ewigen.
Tränen sammelten sich in ihren Augen, als sie die Schandspuren betrachtete. Wie viel Hass hatte diese Rolle schon ertragen müssen! Ohne das Pergament zu berühren, fuhr sie mit der Hand darüber. „Ich werde dich hüten und über dich wachen.“
„Leg sie weg.“ Max’ Stimme ließ sie zusammenzucken. „Diese Schrift ist nicht für dich bestimmt.“
„Du hast die Ruhe des Friedhofes gestört. Vorher wusste niemand, was diese Thora beinhaltet, sie war sicher. Jetzt ist sie es nicht mehr.“
Er rollte das Pergament zusammen und wickelte es in das Mappa-Tuch ein. Darüber zog er das Me’il. „Ich habe das Richtige getan.“
„Das Richtige? Wer gibt dir das Recht, das zu entscheiden?“
„Du weißt genau, was mir das Recht gibt.“ Er legte die Thora auf den Sessel, sammelte seine Kleidung ein und faltete die Sachen erneut zusammen.
„Du bestimmst also jetzt, was gut und was schlecht ist? Du?“
„Ich bin jetzt zu müde, um mit dir zu streiten.“
Sie packte ihn am Arm. „Was hast du mit der Thora vor?“
„Die Antwort kennst du.“
„Was, Max? Was hast du vor?“
„Ich werde herausfinden, was meine Aufgabe ist. Dann werde ich sie vernichten.“
Mirjam wich zurück. „Das kann ich nicht zulassen.“
„Diese Thora enthält den Schlüssel zum absoluten Wissen. Kein Mensch ist bereit, dieses Wissen zu empfangen. Kein Mensch darf diese Rolle jemals in die Hände bekommen. Nicht einmal du.“
„Das kann ich nicht zulassen“, wiederholte sie. „Es ist die Heilige Schrift, die Worte des Ewigen an uns! Er hat dich gesandt, damit du ihr Geheimnis den Menschen überbringst. Und jetzt? Stellst du dich gegen Seinen Willen? Du kannst diese Thora nicht zerstören!“
Seine Haltung spannte sich an. „Und ob ich das kann“, presste er durch die zusammengebissenen Zähne.
„Nein!“ Sie ballte die Hände und schlug auf seine Brust ein. „Ich verbiete es dir!“
Er packte sie an den Handgelenken. Sein Gesicht näherte sich dem ihren. Etwas Gefährliches, Unbändiges stieg in den finsteren Augen auf und schlug ihr entgegen.
Ich verginge von seinem stärkeren Dasein
, schoss ihr die Rilke-Zeile durch den Kopf. Die Augen des Drachens.
„Interessant.“ Seine Stimme erklang hohl in ihren Ohren.
Mirjam bemühte sich um einen Atemzug, fühlte die Pranke des Drachens auf ihre Brust. Max ließ sie los. Die Kralle des Tieres gab sie frei und erst dann gelang es ihr, nach Luft zu schnappen.
„Und jetzt brauche ich Ruhe.“ Er schlüpfte ins Bett und drehte sich auf die Seite.
Wie betäubt zog Mirjam sich an und schwankte in den Flur.
Ein jeder Engel ist schrecklich.
Im Geist hörte sie Max’ Stimme:
Du hast mich entfesselt, mich mit deiner Sünde verbrannt
.
Verwandelte er sich in einen Drachen, um die Welt zu zerstören?
Vorsichtig klopfte sie bei Kristin an. Die Tür ging auf. Im Spalt erschien Kristin, angezogen mit ihrem zerknitterten dunkelgrünen Kleid. Mirjam bemerkte die verweinten Augen, die gerötete Nase und fragte sie sich, ob Kristin sich überhaupt ausgezogen hatte und zu Bett gegangen war.
„Hast du geweint? Ist es wegen Daniel?“
„Du bist jetzt aber nicht gekommen, um nach ihm zu
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