Staub zu Staub
doch ich wollte ihnen nicht glauben.“ Die Funken in seinen Augen verglimmten. Sie wünschte sich, er würde sie anschreien oder sie sogar angreifen. Bloß nicht so ansehen. Matt und anklagend. „Ich dachte nicht, dass es so wehtun wird.“
Das Insulin wirkte nicht, nicht sofort, wie sie es sich vorgestellt hatte. Max setzte sich in den Schneidersitz. Er sah gebrochen aus, unendlich alt, als wäre er vom Leben müde geworden.
„Du hättest in die Vene zielen sollen. Dann würde das Ende schneller kommen.“ Sein Gesicht verlor merklich an Farbe. Er senkte den Kopf. Seine Hände began-nen zu zittern. „Ich habe den Menschen vertraut. Nein, ich habe dir vertraut. Jetzt fragst du dich bestimmt, wie blöd ein einzelner Engel sein kann. Tja, ich war noch nie vollkommen. Ich habe ja Gefühle.“ Ein schwaches Lächeln stahl sich auf seine Lippen und erlosch, genauso wie das Strahlen seiner Augen. Sein Blick schweifte in die Ferne, an Mirjam vorbei, und die weiteren Worte galten nicht mehr ihr. „Du hast … gewonnen. Ich tue, was du verlangst. Ich bin dein.“ Sein Zittern verstärkte sich, ging in Krämpfe über. Max riss den Kragen seines Hemdes auf, als würde er ersticken, und kippte auf die Seite. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen, Muskelspasmen folterten seinen Körper.
Mirjam schluchzte und drückte sich gegen die Wand, bebte mit jeder Zelle ihres Körpers, als ströme das Insulin auch durch ihre Adern. Sie wünschte, sie könne seine Leiden auf sich nehmen.
Es dauerte lange, bis Max das Bewusstsein verlor. Mirjam fiel vor ihm in die Knie. Tränen verschleierten ihren Blick.
„Verzeih mir.“ Ihre Finger strichen über seine Wange. „Es ging nicht anders. Du wirst es verstehen.“ Sie küsste seine kühlen Lippen. „Ich liebe dich.“ Sie bettete ihren Kopf an seine Brust. Schwach pochte sein Herz und mit jedem Ton fürch-tete Mirjam, keinen weiteren mehr zu hören. Der Herzschlag eines Engels.
Auf der Türschwelle erschien Kristin.
Mirjam löste sich von Max und trat zu ihr. „Ich habe die Heilige Schrift“, stotterte sie. „Wir müssen sie verstecken. Aber zuerst sollten wir rausfinden, wie wir Max von dem Drachen befreien können.“
Kristin holte ihr Handy, ohne die Rolle eines Blickes zu würdigen, und wählte eine Nummer. „Es ist so weit. Sie können ihn holen.“
Kapitel 30
Mirjam stürmte aus dem Hotel. Der Portier hatte noch nicht vollständig die Tür geöffnet, als sie mit den Händen gegen die Scheibe stieß und ihn zum Straucheln brachte. Sie rannte, immer schneller, ohne zu registrieren wohin. Die wenigen Passanten traten zur Seite, wer nicht so geschickt war, bekam einen Hieb zu spüren. Häuser, Straßen, Höfe – durch Tränen sah sie nur verschleierte Schemen der Wirklichkeit. Wie alles in den letzten Wochen. Nur Schemen, die sie für die Wahrheit hielt, und wenn sie beschloss, darauf zu zugehen, fiel der Schleier und entblößte den Betrug.
Seitenstiche schnitten ihr unter die Rippen. Mirjam verlangsamte die Schritte, bis sie sich gegen einen Zaun lehnte. Ihr Atem rasselte und sie glaubte fast zu ersticken. Aber noch mehr erstickte sie das beklemmende Gefühl, die Wut aufsich selbst, die Verzweiflung. Was hatte sie bloß getan? Die Bilder der vergangenen Wochen drehten sich wie ein Karussell vor ihren Augen. Schneller, schneller, schneller. Gesprächsfetzen verschmolzen zu einem Summen wie in einem Bienen-stock.
Mirjam sank auf den Boden und drückte ihre Stirn gegen die Eisenstäbe des Zauns. Das feige Weglaufen half nicht. Und nichts auf der Welt konnte ihren Verrat wieder gut machen. Die kleine Mirjam – das Spielzeug in den falschen Händen.
Hinter dem Zaun erstreckte sich ein Spielplatz. Ein Junge saß auf einer Schaukel und hielt die Hände im Schoß zu einem Schöpflöffel gefaltet. Mirjam beobachtete, wie er schaukelte und jedes Mal mit den Schuhspitzen durch den Sand streifte. Nach einer Weile hob er den Kopf und hielt die Schaukel an. Langsam bewegte er sich bis zum Zaun, die gefalteten Hände ausgestreckt, als würde er darin etwas Kostbares verbergen.
Er setzte sich vor Mirjam in den Sand. Nur die dünnen Zaunstäbe trennten sie voneinander. Mirjam konnte seinen Atem an ihrem Hals spüren. Der Kleine roch nach Eierkuchen und Marmelade, Blaubeermarmelade. Mirjam musste an ihren Vater denken, der die besten Eierkuchen aller Zeiten machte und sie am schnell-sten verschlingen konnte.
„Warum rennst du immer weg?“ Die dünne Stimme holte sie zurück
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