Staub zu Staub
fragen, oder?“
„Ich muss mit dir über Max reden. Er hat die Luzzatto-Thora gefunden. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Er ist …“
„Max hat diese Thora?“
„Ja. Und er will sie vernichten. Er will die Heilige Schrift vernichten!“
„Warte.“ Kristin überlegte. „Was macht er im Moment?“
„Schlafen.“
„Okay. Komm rein, aber sei leise. Ich bin gleich wieder da.“
Mirjam trat ins Zimmer, während Kristin etwas aus dem Nachttisch holte und im Bad verschwand. Daniel schlief und Mirjam hörte seinen leicht unregelmäßigen Atem. Er hatte sich aus der Decke gestrampelt und krümmte sich nah am Rand. Seine Miene trug einen kindlich-friedlichen Ausdruck.
Im Bad rauschte das Wasser viel zu gleichmäßig. Kristins gedämpfte Stimme drang durch. Mit wem sprach sie? Mirjam wollte gerade anklopfen, da wurde der Hahn zugedreht und Kristin kam zurück. Ihr Gesicht wirkte schlaff, wie eine schlecht gemachte Gummimaske.
„Komm, lass uns ein wenig spazieren gehen.“
„Du willst Daniel allein lassen? Was, wenn er wieder einen Anfall bekommt?“
Kristin zögerte, trat zum Bett und deckte ihn zu. „Wir werden nicht lange fort sein. Hoffentlich.“
Unten in der Lobby öffnete der Portier ihnen die Tür und begrüßte sie mit einem Kopfnicken. Mirjam grüßte zurück, während Kristin den Mann nicht einmal bemerkte.
Zu dieser frühen Stunde trafen sie kaum Passanten und nur wenige Autos fuhren an ihnen vorbei. Einige Zeit gingen sie still nebeneinander, bis Mirjam das Wort ergriff, weil sie das Schweigen nicht länger ertragen konnte.
„Er will die Thora zerstören. Er meint, die Menschheit sei noch nicht bereit, so ein Wissen zu empfangen. Ich befürchte … ich befürchte, er stellt sich gegen den Willen des Ewigen.“
Kristins Schritte scharrten über den Bürgersteig. „Wollten wir nicht von Anfang an den Schlüssel vernichten, damit er nicht in falsche Hände gerät?“
„Den Schlüssel, ja, aber nicht die Heilige Schrift. Jede Thora enthält dieses Wissen, in der von Luzzatto ist es vielleicht leichter zu finden, ich weiß es nicht. Er ließ mich nicht reinsehen. Aber was kommt dann? Will er jede Thora vernichten, aus Sorge, jemand könnte das Wissen doch noch enthüllen? Das kann ich einfach nicht zulassen.“
„Verstehe.“
„Ich habe Angst um Max. Ich habe Angst, dass er … nicht mehr er selbst ist. Dass etwas Böses ihn ergreift. In letzter Zeit habe ich furchtbare Träume. Ich habe dir ja schon erzählt, einige Propheten haben Visionen empfangen oder konnten mit den Toten reden. Ich bin natürlich kein Prophet. Aber ich frage mich wirklich, ob das nur Träume sind, oder ob mehr dahinter steckt.“
„So?“
„Ich sehe einen Drachen. Er ist purpurrot, hat sieben Köpfe mit zehn Hörnern auf jedem, wenn er erscheint, brennt die Welt. Er bringt Verderbern und Zerstörung und nichts kann ihn aufhalten. Er ist schrecklich.“ Sie bogen in eine kleine Straße. Hier fuhren keine Autos und in der Morgenstille zwitscherten Vögel. In einem der Häuser öffnete jemand ein Fenster und schüttelte ein Tuch aus. Gleich wurde das Fenster wieder zugeschlagen. Mirjam atmete tief die kühle Luft ein. „Max hat mir heute mächtig Angst eingejagt. Er hat mich so angesehen … so … überlegen. Als könne er mich mit einem Finger zerquetschen. Und für einen Moment dachte ich, er würde es wirklich tun.“ Sie zupfte ein Blatt von einem Busch, rollte es zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem Kügelchen und warf es auf den Boden. Beim nächsten Schritt trat sie darauf.
„Diesmal hattest du Glück“, murmelte Kristin.
„Weißt du noch, er meinte, er hätte keine Kontrolle über sich. Kannst du dir vorstellen, was ein Engel wie er anrichten kann, wenn er sich nicht mehr beherrscht?“
„Daran mag ich gar nicht denken.“
„Ich habe versucht, mit ihm zu reden. Er wollte nicht hören. Kristin, ich darf nicht zulassen, dass dieser Drache Max verschlingt. Nur, was soll ich tun? Ich fühle mich so klein. So hilflos.“ Sie schluchzte. „Das alles ist einfach zu gewaltig für mich. Preschkes Tod, Friedmanns Sekte, die Wahrheit über Max. Wie töricht von mir, zu glauben, dass ich es meistern kann.“
Kristin blieb stehen und fasste Mirjams Hände. „Ich kenne einen Ausweg. Sag mir nur eins: Vertraust du mir?“
„Was schlägst du vor?“
„Vertraust du mir?“, wiederholte Kristin mit Nachdruck und presste Mirjams Hände fester zusammen.
„Ja. Natürlich.“
„Max hat
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