Staub zu Staub
… ich verstehe das alles nicht. Was hast du vor?“
„Ich habe vor, Max zu retten. Ich will ihn zurückhaben, wohlauf und vorzugsweise in einem Stück. Mein Vater wird Tilse aufspüren. Und natürlich wird er mir dann sagen, wohin ich die Thora bringen soll. Solange mein Vater die Schriftrolle nicht hat, ist Max bei ihm sicher.“ Er kam um das Bett herum, drückte Mirjam die Rolle und den Notizblock in die Hände und kniete sich vor Kristin, die immer noch in ihrer Ecke wimmerte. „Komm schon, steh auf.“ Er umarmte sie sanft und streichelte ihren Rücken. „Steh auf, mein Liebes. Wir müssen los, hörst du? Wir haben keine Zeit.“ Er holte ein frisches Taschentuch heraus, tupfte ihr die Tränen ab und küsste ihre Stirn. „Bitte, steh auf.“
Mirjam schüttelte den Kopf. „Daniel, ich werde nicht schlau aus dir. Du bist … du bist … ach, ich weiß nicht. Auf wessen Seite stehst du? Gerade eben dachte ich, du wirst uns verraten, und jetzt doch nicht, und … und … du machst es einem echt nicht einfach.“
Er blickte über die Schulter. „Ich stehe auf meiner Seite. Ja, ich will, dass Max mich heilt. Aber das ist noch nicht alles. In den letzten Tagen hat er mir mehr gegeben als sonst irgendjemand vorher. Er hat mir beigebracht, was Selbstständigkeit und Verantwortung ist, was es bedeutet, Entscheidungen zu treffen. Er hat mir gezeigt, wer ich wirklich bin. Verdammt noch mal, er war der Einzige in meinem ganzen Leben, der nicht auf mich herabgeblickt hat. Tja. Mein bester Freund ist ein Seraph. Ist das nicht cool? Willkommen in der Klapsmühle.“
Mirjams Starre löste sich auf, die Unsicherheit wich zurück. Sie beobachtete Daniel, wie er auf Kristin einredete, und eine neue Erkenntnis offenbarte sich ihr. Wer stand ihr immer zur Seite, wenn Max nicht da war? Wer hatte in der Gasse genug Zeit geschaffen, wer hatte sie unter den brennenden Trümmern gerettet? Sie ging neben ihm in die Hocke.
„Dani?“
Er grinste. „Das erste Mal, dass du mich Dani nennst. Und weißt du was? Außer euch hat mich noch keiner so genannt.“
Mirjam umarmte ihn, überrascht von sich selbst. „Danke dir.“ „Äh. Jetzt machst du mir wirklich Angst.“
Kristin zitterte am ganzen Körper und klammerte sich an Daniel, während er sie behutsam aus dem Zimmer führte. Fürs Packen blieb keine Zeit. Auf der Schwelle drehte sich Mirjam noch einmal um und holte den Schmetterling vom Nachttisch. So stiegen sie alle ins Auto, nur mit der Thora und dem Notizblock gewappnet.
Als Mirjam den Wagen aus der Garage des Hotels fuhr, blätterte Daniel im Notizblock.
„Was ist das für ein Gekrakel?“
„Das sind Max’ Aufzeichnungen. Er wollte wissen, was er ist und welche Aufgabe er hat. Ich habe keine Ahnung, nach welchem System er die Antworten aus der Thora bekommen hat. Es war keine Zeit, um sie sich näher anzusehen.“
„Sin, Teth und Nun sind umkreist.“
Mirjam verharrte über dem Lenkrad. Sollte sie es ihm sagen? Wie würde er reagieren, so katholisch verseucht wie er war, wenn er wüsste, welcher Engel Max wirklich war? Andererseits hatten die Geheimnisse schon genug Leid angerichtet.
„S-T-N.“ Mirjam hielt den Audi an einer roten Ampel an und beobachtete den Autostrom auf der Querstraße. „Hebräisch ist eine Konsonantensprache. Jetzt füge jeweils ein A dazwischen, dann weißt du, was gemeint ist.“
Es war nicht Daniel, der protestierte. Kristin japste und machte einen Ruck nach vorn, was den ganzen Wagen erschütterte. „Was? Er ist … Er ist …“
Die Ampel schaltete auf Grün. Mirjam setzte den Audi in Bewegung. „Es hört sich schlimmer an, als es ist. Der Schöpfer ist allmächtig. Wie kann er einen Widersacher haben? Max ist derjenige, der im Auftrag des Herrn die Menschen auf die Probe stellt. Aus dem Hebräischen übersetzt lautet sein Name der ‚Ankläger’.“ Sie schmunzelte. „Er ist der Versucher und Verführer, aber es liegt an den Menschen, welche Entscheidungen sie treffen, ob sie ihm widerstehen.“
„Tja“, seufzte Daniel. „Das sieht meine Kirche doch ein wenig anders.“
„Ob es mir schnuppe ist, was deine Kirche sieht? Für mich ist er kein gefallener Engel und nicht die Quelle allen Bösen.“ Im Rückspiegel sah sie, wie Kristin ihr Gesicht in den Händen vergrub und sich an Daniel lehnte.
„Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe überhaupt nichts mehr“, stammelte sie. „Und ich habe solche Angst!“
„Hör zu“, sagte Mirjam in beruhigendem Ton.
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