Staub zu Staub
klatschte ihm auf die Wange. „Schlag mich tot, aber dieser ist auch auf so einem Halluzinationstrip.“
„Aber er kennt die Gefahr und ist bestimmt nicht mit Max’ Blut in Berührung gekommen“, meinte Daniel.
„Bist du dir sicher?“
Mirjam deutete auf einen weißhaarigen Mann in der Ecke. „Ist das Friedmann? Dein Vater?“
Daniel nickte. „Er ist bewusstlos, hat viel Blut verloren. Wir müssen das Ganze so schnell wie möglich beenden und ihn ins Krankenhaus bringen.“ Er ging vor ihm in die Hocke und streifte über sein Gesicht. Für einen Augenblick erstarrte er und tastete nach seiner Schlagader. „Oh nein. Papa!“ Er schüttelte den Mann und versuchte ihn zu beatmen. „Nein! Bitte nicht!“
Kristin eilte ihm zur Hilfe und stemmte rhythmisch gegen Friedmanns Brust. Mirjam schluckte. Sollte sie es ihm sagen? „Es ist sinnlos. Ich habe ihn zwischen den Klagenden gesehen. Wir müssen uns lieber überlegen, was wir tun sollen.“
Daniel sackte über dem Mann zusammen. „Ich weiß es nicht!“, rief er durch Tränen. „Vielleicht liegt es daran, dass ich erst im ersten Semester bin, aber den Kurs ‚Theoretische Grundlagen des Verhinderns der Apokalypse’ hatte ich nicht.“
Das Erdbeben kam ohne Vorwarnung und erschütterte das ganze Gebäude. Das Licht erlosch. Mirjam fiel auf den Boden und schlug die Arme über den Kopf, während die Erde rebellierte. Etwas krachte und rumpelte. Das Haus stürzte zusammen!
Alles ringsherum schien aus den Fugen zu geraten. Wie auf einer Opferstätte wartete sie auf einen Stein, der ihren Schädel einschlagen und diesen Wahnsinn beenden würde.
Erst nach mehreren Minuten beruhigte sich die Erde vollständig. Noch einen Moment lag Mirjam still und lauschte Tilses monotonem Murmeln aus der Thora, dessen Stimme sich mit dem Sturm draußen mischte, der sogar die Steinwände durchdrang. Dann wagte sie es, den Kopf zu heben.
„Kristin? Dani? Seid ihr alle noch da?“, wisperte sie in die Dunkelheit.
„Mir geht’s gut“, schluchzte Daniel und hustete. Kristin nieste.
Mirjam hörte Daniel irgendwo kramen, vermutlich in einer Jacke. Ein Klacken ertönte und die Flamme eines Feuerzeugs warf zuckendes Licht auf sein Gesicht.
„Okay.“ Seine Stimme zitterte, aber er wirkte gefasst. „Ich habe einen Vorschlag. Aber er wird dir nicht gefallen.“
Mirjam schaute zu Max, der im Dunkeln einer Statue ähnelte. Er wollte ihn umbringen! Panik wallte in ihr auf.
„Vergiss es! Ich lasse nicht zu, dass du ihm etwas antust! Hörst du?“
„Nicht ihm. Der Thora. Ich glaube, sie ist der Schlüssel. Wir müssen sie vernichten.“
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Die Fingernägel gruben sich in ihre Haut. „Nein!“
„Alles fing erst an, als ich die Thora gebracht habe. Kristin?“ Diese zuckte mit den Schultern, dann nickte sie. Die beiden verstanden sich ohne Worte.
„Nein!“, rief Mirjam. „Es ist die Heilige Schrift!“
Kristin legte ihre Arme um sie und Mirjam begriff, dass ihre Freundin sie nicht trösten, sondern zurückhalten wollte. Sie wand sich aus der Umarmung, doch Kristin drückte sie sanft aber bestimmt erneut an sich. Daniel richtete seine schiefe Brille.
„Wir müssen es tun.“ Er stand auf. „Du hast nichts zu befürchten. Diese Schuld nehme ich auf mich.“
Er beugte sich über die Thora und setzte die zuckende Flamme an den Rand.
„Nein, warte!“ Entsetzt beobachtete Mirjam, wie das Feuer die Heilige Schrift verschlang. Die Thora, die sie zu hüten gelobte! Ihr feierliches Versprechen, das sie nicht einhalten konnte. Braun färbte sich das Pergament, wurde schwarz, kräuselte sich unter den lodernden Zungen und zerfiel zur Asche.
„Nein!“, schrie sie. „Aufhören! Hör auf, sofort!“
Stück für Stück rollte Daniel das Papier auf und gab es den Flammen hin.
Immer schneller ratterte Tilse die Sätze aus der Thora herunter, als spürte er, was geschah. Bald konnte Mirjam kein einziges Wort mehr verstehen. Sein Stottern erinnerte an eine Steinlawine, die einen Berg hinunterrasselt.
Dann kam die Stille.
Für einen Augenblick dachte Mirjam, taub geworden zu sein. Kein Knistern des Feuers. Kein Gemurmel. Sie schabte mit dem Fuß über den Boden und hörte keinen Ton. Durch Tränen sah sie die Reste der Thora im Feuer zerfallen. Die sterbenden Flammen leckten über das Pergament und erloschen. Der Rauch schwebte unter der Decke. Mit dem letzten Funken kehrten die Geräusche zurück.
Tilse verstummte, riss die Augen auf und
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