Staub zu Staub
und versteckte ihr Gesicht in den Händen. Nein, das hatte sie nicht gewollt. Ganz bestimmt nicht! Das alles durfte nicht einmal geschehen!
„Gevurah.“
Stille brach über sie ein. Keine Schreie mehr. Kein Wind. Kein Flattern der Folie. Für einen Augenblick glaubte Mirjam, taub zu sein. Der Kerl regte sich nicht. Seine weit aufgerissenen Augen starrten ihr mit einer letzten Botschaft entgegen:
Du warst es!
Max stand über ihm ohne sich zu bewegen. Richter und Henker in einer Person. Das Blut rann über die Finger seiner ausgestreckten Hand und tropfte herunter, immer langsamer, bis es versiegte.
Mirjam raffte sich auf. Ihre Beine schlotterten und sie krallte sich an einer Stange des Baugerüsts fest, um nicht zusammenzubrechen.
„Max?“, hauchte sie.
Beim Klang ihrer Stimme entspannte sich seine Haltung. Er blinzelte, als wüsste er nicht, wo er sich befand, sah auf den Toten und schließlich auf die verletzte Hand. Sein Gesicht war leichenblass, seine Augen wirkten matt und leer.
Weg! Sie musste weg von diesem Albtraum, zurück in ihre Wohnung und sich unter der Bettdecke verkriechen und alles vergessen!
Stattdessen starrte sie Max an.
Er hatte sie gerettet.
Alles Weitere hatte sie gewollt.
„Der andere Kerl – ist er auch …“ Ihr Blick streifte den Toten. Der Ewige ver-bat, das Blut zu verzehren. Fast glaubte sie zu wissen, was wirklich dahinter steckte.
Max wich zur Hauswand zurück und suchte Halt. Mirjam machte einen Schritt auf ihn zu.
„Nein. Komm mir nicht zu nah.“ Seine Stimme vibrierte, aber sie klang wieder menschlich.
Langsam rutschte er auf den Boden und vergrub den Kopf in den Armen. Er zitterte immer heftiger, bis es in Krämpfe überging. Bald konnte er sich nicht mehr unter Kontrolle halten und kippte auf die Seite. Seine Atemzüge wurden immer kürzer und schneller. Er erstickte.
Mirjam machte erneut einen Schritt auf ihn zu, trat aber gleich wieder zurück. Nicht nahe kommen, hatte er gesagt. Aber irgendwas musste sie doch tun, jetzt brauchte er ihre Hilfe! „Max, was ist mit dir? Du brauchst einen Arzt!“
Er antwortete nicht. Sein Körper zuckte in Konvulsionen, als zerrte etwas an seinen Muskeln. Die Atmung setzte mit jedem Krampf aus, nur für wenige Sekunden, in denen Mirjam selbst inne hielt, bis er nach Luft schnappte und sie auf den nächsten Aussetzer wartete.
Bitte, stirb nicht!
Noch nie fühlte sie sich so hilflos. Die kleine Mirjam, zu nichts zu gebrauchen.
Endlich verebbte der Anfall. Max stöhnte.
„Nein. Keinen Arzt. Eher brauche ich … einen Anwalt.“
Kapitel 10
„Los, geh schon ran“, knurrte Tilse sein Handy an. Das Wochenende stand bevor. Das erste Papa-Wochenende, hoffte er. Wie sehr wünschte er sich, seiner Kleinen sagen zu können, wie doll ihr Papa sie liebte und vermisste. Wieso nahm keiner ab? Wollte Sandra das Dornröschen ganz aus seinem Leben nehmen, nichts zurücklassen, außer dem Schnuller?
Nach dem sechsten Ton meldete sich der Anrufbeantworter.
„Verdammt!“ Er schlug mit dem Handy gegen das Lenkrad. Sollte er vielleicht doch zu seinem Schwiegermonster fahren und mit Sandra Klartext reden? Mahnend baumelte Lisas Schnuller am Rückspiegel. Nein. Beruhige dich und mach nicht alles noch schlimmer. Sandra braucht etwas Abstand. Bald wird sie von selbst zur Vernunft kommen.
Tilse ließ den Autolärm der Bundesstraße hinter sich und bog in einen Feldweg ein. Es dauerte nicht lange, bis er von diversen Schlaglöchern diszipliniert wurde, im Schritttempo zu fahren.
Während die Zweige der Büsche auf die Autotüren einpeitschten, befühlte er in seiner Jackentasche den Insulin-Pen. Der Schlüssel zur Macht über Jonathan. Der Schlüssel zu seiner eigenen Freiheit. Er hatte schon einige Telefonate geführt, hatte die Fühler ausgestreckt, wer an einem jungen Mann mit totipotenten Zellen und aktiven WNT-Genen interessiert sein könnte. Für inoffizielle Forschungen natürlich. Und wie viel Geld dieses Interesse bringen würde.
Erneut tastete Tilse nach dem Insulin-Pen. Er hatte es nicht mehr nach Hause geschafft, um den Wunderstift abzulegen, als Friedmanns Anruf kam. Was hatte den Spiritus Rektor so aus der Fassung gebracht? Die Einladung zum Kloster deutete jedenfalls auf ein größeres Problem hin.
Bald passierte er ein Flurkreuz aus Sandstein, an welches sich Efeu schmiegte, und der Weg führte zu einer Lichtung. Die hohen Bruchsteinmauern des Grund-stückes, über die zwei Walmdächer lugten, wirkten befremdlich in diesem
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