Staub zu Staub
Oberhaupt, um nicht zu verraten, an welchem Teil seines Körpers ihm die Kabbala vorbei ging.
„In der Tat.“ Friedmann sah zur Kassettendecke, deren Quadrate mit einem aufwändigen Dekor verziert waren. „Ich suche den Weg zum Schöpfer.“
„Das tun wir alle, nicht wahr?“ Der Professor erstrahlte noch mehr und setzte sich auf seinen Stuhl. Auch Tilse nahm Platz und beobachtete die im Sonnenlicht tanzenden Staubpartikel, während Berger weiterredete: „Nun, ich muss sagen, das Studium der Kabbala ist äußerst schwierig. Sie haben mir zwar geschrieben, ein solides Wissen der Judaistik zu besitzen und es schmeichelt mir sehr und erfreut mich, dass sie meine Thesen verstehen und vor allem unterstützen, jedoch bezweifle ich, dass Sie wirklich mehr als ein – Entschuldigung – Dilettant sind.“
Tilse zog eine Augenbraue hoch. Friedmann als einen Dilettanten bezeichnen? Die Unterhaltung versprach, amüsant zu werden.
Der Spiritus Rektor verschränkte die Arme vor der Brust und trat an das Fenster. Sein Gesicht zuckte mit keinem Muskel. „Darf einem Suchenden das Wissen verwehrt sein?“
Der Professor nickte mehrfach und glättete sich das Haar an den Schläfen.
„Ja, ja. Diese Meinung wird von einigen vertreten, das ist richtig. Jedoch kann die wirkliche, ich meine authentische Kabbala viel Schaden anrichten. Unser Universum ist ein sensibles System und der Mensch darin – ein schwaches Geschöpf.“ Tilse grinste, was der Professor bemerkte. „Ich spüre eine leichte Skepsis bei Ihnen.“ Er faltete die Hände und tippte sich mit den Fingern an die Lippen. „Nun, ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Eine sehr alte Geschichte, aus dem Talmud. Es lebten einmal vier Rabbiner Ben Azzai, Ben Zoma, Aher und Akiva. Sie strebten zum Schöpfer und begaben sich auf den Weg zum Prades, dem Garten des Herrn. Beim Anblick der Pracht fiel Ben Azzai auf der Stelle tot um. Ben Zoma verlor die Besinnung. Aher lief durch die Wege, schnitt die Blumen und fand keine Rückkehr. Und nur Rabbi Akiva, der vom Schöpfer als würdig empfunden wurde, konnte in Frieden den Garten verlassen. Verstehen Sie? Für einen Unvorbereiteten führt dieser Weg ins Unglück.“
Tilse zuckte mit den Schultern und blickte zu Friedmann. Der alte Mann beobachtete den Himmel wie eine Sphinx, die auf etwas lauert.
„Mich interessiert Ihre – zugegeben etwas gewagte – These, dass Rabbi Mosche Chajim Luzzatto die Thora vollständig entschlüsselt haben soll.“
„Nun ja, meine letzten Forschungen, die Sie inzwischen zum Teil kennen, beschäftigen sich ausschließlich mit seinem Leben und Wirken. RaMChaL – was ein Akronym für seinen Namen ist – war nicht nur ein herausragender Kabbalist, sondern auch ein Dichter und Philosoph. Bei den Interpretationen seiner poetischen, wissenschaftlichen und spirituellen Werke fielen mir sehr viele Andeutungen auf, die er in diese Richtung gemacht hat. Wissen Sie, seine Ansichten sorgten damals für Aufruhr. Ihm wurde sogar vorgeworfen, das Volk mit den Lehren des falschen Messias, Sabbatai Zwi, zu blenden. Mehrere seiner Schriften wurden deswegen verbrannt oder versteckt. Ich vermute, der wahre Grund der Verfolgung lag darin, dass er die Kabbala enthüllt hatte. Es ist nämlich untersagt, alle Geheimnisse der Lehre zu entschlüsseln, denn ein Mensch kann mit der Gewalt eines solchen Wissens nicht umgehen.“ Der Professor seufzte. „Mein Artikel darüber rief ebenso eine heftige Kritik von allen Seiten hervor, auch wenn meine Auslegungen und Interpretationen von RaMChaLs Werken diese These untermauern.“
Tilse unterdrückte ein Stöhnen. „Verstehe ich das richtig?“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Beine in Knöchelhöhe. „Luzzatto soll die Thora entschlüsselt haben, die angeblich alles Wissen über das, was war, ist oder sein wird, beinhaltet? Er ist also allwissend geworden und hat es nicht genutzt?“
Der Professor rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Nun, RaMChaL war ein weiser Mann und er hatte die Gefahren erkannt, die so ein gewaltiges Wissen bewirken kann.“
Tilse schlug auf die Lehnen seines Stuhls. „Ich bitte Sie! So ein Wissen bringt unglaubliche Macht mit sich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch darauf verzichten würde.“
Der Professor schaute ihn mitleidig an. „Sie haben wohl keine Ahnung von diesem Thema, nicht wahr? In der Kabbala gibt es kein Wollen und Besitzen. Es geht um die Verbesserung des Ichs und den Weg zum Schöpfer. Man ist
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