Staub zu Staub
können.
„Was ist hier eigentlich los?“
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schlenderte Friedmann zur Treppe. Tilse eilte ihm hinterher. Fast glaubte er, keine Erklärung mehr zu bekommen, bis der alte Mann sprach.
„Jonathan lässt grüßen.“ Die Holzstufen quietschten unter seinem Gewicht. „Köhler ist tot. Und solange ich nicht weiß, was mit Walters ist, muss er einge-sperrt bleiben. Zu seiner eigenen Sicherheit.“
„Tot? Wie, tot?“
„Wie, das wird die Autopsie zeigen. Ich habe einen Vertrauten, er lässt mir die Kopien aller Berichte zukommen.“ Er drehte sich auf dem Absatz um. „Es scheint Sie nicht zu überraschen, dass unser Messias wieder aufgetaucht ist.“
Tilse klammerte sich an das Geländer. „Doch, doch. Ich – ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Wie lange wird Walters da unten bleiben? Ich meine, irgendwie müssen wir ihm Wasser und Essen zukommen lassen.“
Friedmann klopfte ihm auf die Schulter. „Glauben Sie mir, wenn er stirbt, dann ganz gewiss nicht an Hunger und Durst. Ich habe einen Arzt angefordert, er schuldet mir noch einen Gefallen. Hoffentlich beeilt er sich.“ Er richtete seine Brille, obwohl diese perfekt saß. „Auch wenn es Sie nicht interessiert: Jonathan ist erschienen, als die beiden das Mädchen angegriffen haben. Die Kleine scheint in seiner Gnade zu stehen. Walters konnte fliehen, Köhler hatte weniger Glück.“
„Wissen Sie, wo und … wer der Junge ist? Wie finden wir ihn wieder?“
„Junge.“ Der alte Mann lächelte. „Sie sind ja witzig. Tja, da er und das Mädchen momentan auf der Polizeiwache sind, werden wir bald alles über ihn erfahren.“
Tilse atmete auf. Also keine Nachforschungen durch die Organisation, und die Polizei würde kaum von den totipotenten Zellen berichten können. Dennoch blieb ihm nicht viel Zeit.
Friedmann setzte seinen Weg fort und sagte, als könnte er Gedanken lesen:
„Ich fürchte, wir haben nicht viel Zeit. Wenn er sich schon zu erkennen gibt, befürchtet er keine Enthüllung mehr. Das Ende naht.“ Er bog in die Galerie. „Übrigens, ich möchte Sie mit jemandem bekannt machen. Jemandem, der uns mit der Kabbala weiterhilft. Das hat Sie doch interessiert, oder?“
„Herr Luzzatto nehme ich an?“ Tilse besah sich die Klosterwand. Wo andere Galerien Porträts der Ahnen präsentierten, stellte diese eine Sammlung Kruzifixe zur Schau: Kleine, die man in der Faust hätte verschwinden lassen können, und altargroße, jedes bis ins letzte Detail ausgearbeitet. Tilse schüttelte sich. Diese Ausstellung des Leiden Jesu jagte ihm Abscheu ein.
„Oh nein.“ Friedmann war vorgegangen und blieb im Flur neben einer Tür stehen. „Herr Luzzatto, wie Sie ihn nennen, ist bereits 1746 in Acco gestorben. Doch unser Gast kann uns ihm näher bringen als jeder andere.“ Er trat ein.
Tilse hastete hinterher und hatte das Gefühl, als würden die Jesusfiguren ihn mit ihren Blicken verfolgen, bis er die Tür hinter sich zufallen ließ. Sonnenlicht, das durch die Bogenfenster strömte, blendete ihn. Er blinzelte und sah einen Moment nur weiße Kreise, bis seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Es roch nach altem Papier und verstaubten Wälzern. Die Bibliothek des Abtes. Links sah er die Tür zum Büro des Abtes, wenn Tilse es richtig in Erinnerung hatte. In der Mitte stand ein runder Tisch. Dahinter saß ein Mann, Ende Fünfzig, in einem altmodischen Tweedanzug. Auf seinem Schoß thronte eine mit Papier überfüllte Tasche. Seine Finger trommelten auf dem porösen Leder. Friedmann lächelte, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
„Professor Berger? Danke, dass Sie gewartet haben. Und vor allem, dass Sie so einen langen Weg aus Frankfurt auf sich nahmen. Darf ich vorstellen – Herr Tilse, mein Assistent.“
Tilse verzerrte das Gesicht. Assistent? Das Wort lag bitter in seinem Magen.
Der Professor stellte seine Tasche ab, sprang auf und hastete mit ausgestrecktem Arm auf sie zu. „Erfreut. Sehr erfreut. Die Korrespondenz mit Ihnen war sehr aufschlussreich. Endlich können wir uns persönlich kennen lernen.“ Er schüttelte Friedmanns Hand, als würde er einen Milchshake bereiten, dann wandte er sich Tilse zu. Seine Haut fühlte sich trocken an und der Druck unvermutet kräftig. „Wie ich verstanden habe, interessieren Sie sich für die Philosophie der Kabbala und meine Thesen diesbezüglich?“
Tilse zog seine Hand zurück und knetete seine Finger. Die Antwort überließ er dem
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