Staub zu Staub
bestrebt, sich zu einem Zaddik, dem Menschen ohne Sünde, zu entwickeln, der wie der Schöpfer selbst nur Gutes verbreiten will.“
Friedmann hob seinen Zeigefinger.
„
Die Forderung, in den Wegen Gottes zu wandeln, umfasst die gesamte Charakterbildung. Das meinen unsere Weisen mit den Worten: Wie er barmherzig ist, so sei auch du barmherzig. Der Inbegriff von allem ist, dass der Mensch all seine Eigenschaften und all seine Handlungen nach der Geradheit und Sittlichkeit bestimme
.“
Der Professor erstrahlte. „Mosche Chajim Luzzatto. Messillat jescharim – Der Weg der Frommen. Ein unglaubliches Buch!“
„Ist das nicht ein Teufelskreis?“ Tilse rieb sich die Nasenspitze. „Was bringt alles Wissen, wenn man es nicht nutzen kann?“
Der Professor sprang auf und lief um den Tisch, während er wild mit den Händen gestikulierte. „Sie wollen es einfach nicht verstehen!“ Ein Tropfen Spucke fiel auf die polierte Tischoberfläche. „Die Kabbala ist nicht dazu da, Ihnen Macht, Schönheit oder Reichtum zu geben. Sie führt Sie zur Erleuchtung, hilft Ihnen, besser zu werden. Gut. Überaus gut, wie der Schöpfer selbst.“
Friedmann löste sich vom Fenster, fing den Professor ab und legte ihm die Hand um die Schulter. „Sie sehen, nicht alle können den Sinn der Kabbala begreifen. Es ist unsere Pflicht, sie aufzuklären.“
„In der Tat.“ Berger warf einen vernichtenden Blick auf Tilse und stemmte seine Tasche auf den Tisch. Wie ein übereifriger Advokat holte er verschiedene Mappen hervor und knallte sie auf die Tischplatte, bis ein beachtlicher Papierturm empor-ragte. „Hier sind meine Forschungsaufzeichnungen“, verkündete er und funkelte Tilse herausfordernd an, „die ich zu RaMChaL und seinen Werken gemacht habe.“ Sein Blick schweifte zu Friedmann. „Die anderen Arbeiten werde ich Ihnen per E-Mail zukommen lassen. Sie werden sehen, die Materie ist sehr umfangreich und kompliziert. Allerdings möchte ich Sie warnen: Es bringt nichts, andere Kabba-listen auf ihren Wegen zum Schöpfer nachzuahmen, jeder Weg ist individuell, so individuell, wie wir es sind. Wenn Ihr Geist nicht bereit ist, können Sie damit viel Schaden anrichten. Vor allem bei sich selbst.“
„Ich bin über die Gefahren im Bilde und werde sehr behutsam mit dem Wissen umgehen.“
„Na dann.“ Der Professor schüttelte Friedmann die Hand. „Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Und noch einmal Danke für die großzügige Spende, die mir weitere Forschungen ermöglicht.“
Tilse verengte die Augen. Was glaubte der Mann, wer die Organisation finanziell unterstützte? Doch der Professor verließ das Zimmer, ohne Tilse eines Blickes zu würdigen, die abgemagerte Tasche unter den Arm geklemmt. Friedmann lächelte ihm nach. Als die Tür hinter dem Besucher zufiel, erlosch sein Lächeln.
„Und? Was denken Sie?“
Tilse reckte sich. „Ganz ehrlich? Ich finde seine Thesen ziemlich an den Haaren herbeigezogen.“
„Nun, ich habe mich mit seinen Interpretationen und Auslegungen auseinander gesetzt. Einige Muster, die er in RaMChaLs Werken entdeckt hat, sind sehr inspirierend.“
„Sie glauben also, dieser Luzzatto konnte
die
Wahrheit über das Universum aus der Thora entschlüsseln?“
„Seine Werke sind wirklich unglaublich. Das Buch ‚Derech HaShem’ – Der Weg Gottes – ist bis heute eine der wichtigsten Schriften der Kabbala. Nach einigen Meinungen, die ich gelesen habe, ist das die authentischste Version von ‚Torah Sh’Baal Peh’. Das sind die mündlichen Überlieferungen von den Anweisungen, die Moses auf Sinai von dem Ewigen empfangen hat. Außerdem …“, er blätterte in den Unterlagen, die der Professor hinterlassen hatte und zückte eine Seite heraus. „Hier. Hören Sie, was RaMChaL über seine Visionen schrieb: ‚
Und als ich in eine Trance fiel und erwachte, vernahm ich eine Stimme, die zu mir sprach: Ich bin zu dir herabgestiegen, um die Geheimnisse des Ewigen Königs zu enthüllen
.’“ Er legte das Blatt wieder in die Mappe. „Nach Luzzattos Aufzeichnungen war das ein Maggid, der Lehrer, der zu ihm vom Himmel gesandt wurde. In weiteren Visionen empfing RaMChaL sogar den Propheten Elijah, der ihm die Erscheinung von Metatron ankündigte.“
„Wer ist Metatron?“
„Mein lieber Tilse. Besonders in unserer Situation kann ich Ihnen das Studium der Theologie sehr ans Herz legen. Metatron ist der mächtigste aller Seraphim. Er ist der höchste Engel des Himmels, der dem Schöpfer am nächsten
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