Staub
verschonen. Schließlich sitzt er gerade auf dem Bett und fühlt sich elend und verkatert und scheußlich und hat eine Todesangst, weil er vielleicht eine schwere Straftat begangen hat oder einer solchen bezichtigt werden könnte, sofern das nicht bereits geschehen ist. Er betrachtet den grauen Himmel jenseits der Fensterscheibe und stellt sich vor, wie ein ziviler Crown Victoria der Polizei von Richmond auf der Suche nach ihm durch die Straßen kurvt. Verdammt, vielleicht ist ja Detective Browning persönlich unterwegs, um ihm den Haftbefehl zuzustellen.
»Was passierte dann?«, fragt Scarpetta.
Marino malt sich aus, wie er auf der Rückbank des Crown Victoria sitzt, und überlegt, ob Browning ihm wohl Handschellen anlegen würde. Er könnte Marino aus Respekt unter Kollegen ungefesselt ins Auto setzen. Genauso gut aber könnte er diesen Respekt in den Wind schlagen und die Handschellen hervorziehen. Bestimmt würde er die Handschellen nehmen, denkt Marino.
»Du hast nach sieben Uhr ein paar Biere getrunken und ein Steak mit Salat gegessen«, fordert Scarpetta ihn in ihrer sanften, aber unerbittlichen Art zum Weitersprechen auf. »Wie viele Biere waren das denn genau?«
»Vier, glaube ich.«
»Du sollst nicht glauben. Wie viele?«
»Sechs«, entgegnet er.
»Gläser, Flaschen oder Dosen? Große? Normale? In anderen Worten: Wie groß waren diese Biere?«
»Sechs Flaschen Budweiser. Normale. Das ist übrigens nicht sehr viel für mich. Das vertrage ich locker. Für mich sind sechs Biere wie ein halbes für dich.«
»Sehr unwahrscheinlich«, erwidert sie. »Über deine Rechenkünste unterhalten wir uns später.«
»Ich brauche deine Vorträge nicht«, nuschelt er und starrt sie dann verstockt schweigend an.
»Sechs Biere und ein Steak mit Salat im Polizeiclub mit Junius Eise und Detective Browning. Und wann hast du das Gerücht aufgeschnappt, dass ich möglicherweise nach Richmond zurückkehre? Könnte das während deines Abendessens mit Eise und Browning gewesen sein?«
»Du kannst ja tatsächlich zwei und zwei zusammenzählen«, sagt er mürrisch.
Eise und Browning saßen ihm gegenüber am Tisch. Unter einer roten Glasglocke flackerte eine Kerze, und sie tranken alle drei Bier. Eise fragte Marino nach seiner Meinung über Scarpetta. Ist sie wirklich so eine tolle Medizinerin und Chefin?
Sie ist zwar die Größte, aber sie lässt es nicht raushängen, waren Marinos Worte. So viel weiß er noch. Und er erinnert sich daran, was er empfunden hat, als Eise und Browning anfingen, über sie zu sprechen und zu mutmaßen, sie würde wieder zur Chefpathologin ernannt werden und nach Richmond zurückkehren. Marino gegenüber hat sie das mit keiner Silbe erwähnt, und er fühlte sich gedemütigt und wütend. Das war der Augenblick, in dem er beschloss, von Bier auf Bourbon umzusteigen.
Ich fand sie schon immer scharf, wagte dieser vertrottelte Eise zu sagen. Daraufhin bestellte Marino den ersten Bourbon. Die hat ganz schön Holz vor der Hütte, fügte Eise ein paar Minuten später hinzu und hielt sich grinsend die gewölbten Hände vor die Brust. Hätte nichts dagegen, der mal unter den Labormantel zu fassen. Tja, Sie arbeiten ja schon seit einer Ewigkeit mit ihr zusammen, richtig? Wenn man sie jeden Tag um sich hat, fällt einem ihr Aussehen wahrscheinlich gar nicht mehr auf.
Da Marino nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, leerte er den ersten Bourbon und bestellte dann den nächsten. Allein bei der Vorstellung, wie Eise ihren Körper angafft, hätte er ihm am liebsten eine runtergehauen. Aber natürlich hat er das nicht getan. Er hat einfach nur dagesessen und getrunken und versucht, nicht daran zu denken, wie sie aussieht, wenn sie den Labormantel auszieht und ihn über einen Stuhl oder an den Haken an der Tür hängt. Er gab sich größte Mühe, das Bild auszublenden, wie sie an einem Tatort aus der Kostümjacke schlüpft, die Manschetten ihrer Bluse aufknöpft und die nötigen Kleidungsstücke an- oder auszieht, wenn eine Leiche auf sie wartet. Sie hatte schon immer ein unbefangenes Verhältnis zu ihrem Körper, das frei von jeglichem Exhibitionismus ist, und bemerkt ihre Reize gar nicht. Es interessiert sie einfach nicht, ob jemand sie beobachtet, während sie Knöpfe öffnet, Kleidungsstücke ablegt, sich vorbeugt und sich bewegt. Schließlich arbeitet sie, und den Toten ist es gleichgültig, was sie zu sehen bekommen. Sie sind ja tot. Nur Marino lebt. Vielleicht ist ihr das noch gar nicht
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